Dank ihrer inzwischen 2.000 Artikel rückt Jess Wade das Wikipedia-Universum zurecht: mit Einträgen über Frauen, People of Color und anderen Minderheiten wie LGTBQ+ Personen in der Wissenschaft. 2024 ist sie Ballbotschafterin und Ehrengast am Wissenschaftsball.
Ein Porträt von Oliver Lehmann für das Ballmagazins 2024.
Eine interessante Geschichte, eine erste schnelle Recherche, ein Hinweis auf einen Wikipedia-Artikel. Im Fall von Jessica Wade führte das zu einem Eintrag1https://en.wikipedia.org/wiki/Jess_Wade über eine renommierte Materialwissenschaftlerin, die sich am Imperial College London mit der sogenannten Raman- Spektroskopie befasst, eine Methode zur Untersuchung von Materialeigenschaften etwa von Halbleitern oder Pigmenten – besonders relevant bei der Analyse von Kunstobjekten. So weit, so erwartbar.
Aber an dem Wikipedia-Artikel sind drei Aspekte besonders bemerkenswert: Erstens handelt er von einer weiblichen Naturwissenschaftlerin – und damit einer Minderheit, trotz aller offiziösen Bekenntnisse zur Förderung von Frauen in den MINT-Fächern in den letzten Jahren. Zweitens, weil neben den wissenschaftlichen Meriten auch ihre vielfältigen Aktivitäten im Bereich der Wissenschaftsvermittlung und der Frauenförderung angeführt sind; was sich nicht zuletzt durch ihre 60.000 Follower auf vormals Twitter und ein Kinderbuch über Nano-Materialien manifestiert. Und drittens, weil der Wikipedia-Eintrag nicht von ihr ist, sondern von einem Kollegen am Imperial College namens Ben Britton, der den Artikel 2018 angelegt hat.
Ein Artikel pro Abend
Im Jahr zuvor hatte Jessica Wade begonnen, die ersten Beiträge auf Wikipedia über Frauen, People of Color (PoC) und andere Minderheiten wie LGTBQ+ Personen in der Wissenschaft zu veröffentlichen. Ihr Motiv erläuterte sie in einem Interview mit dem Online Magazin Vice 2https://www.vice.com/en/article/z34k9e/wikipedia-pages-womenscientists- jessica-wade-stem: „Wenn schon die meisten Menschen Wikipedia als Informationsquelle nutzen, dann haben wir auch die Verpflichtung, Wikipedia korrekt, vollständig und gerecht zu gestalten.“ Seither hat sie (Stand: Ende 2023) mehr als 2.000 Einträge verfasst, was ziemlich genau einem Text pro Tag entspricht – oder besser pro Abend, den Wade schreibt die Texte gerne nach der wissenschaftlichen Arbeit vor dem Hintergrundrauschen von Immobilien-Shows auf Netflix wie „Buy My House“ oder „Selling Sunset“.
„Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche Frauen keine Wikipedia-Seite haben“, wird Wade im Observer 3https://www.theguardian.com/science/2023/oct/01/why-are-theynot- on-wikipedia-dr-jess-wades-mission-for-recognition-for-unsungscientists im Oktober 2023 zitiert. Weil sich nämlich für deren oft weniger relevanten männlichen Pendants in dem Forschungsfeld durchaus Seiten finden lassen. „Und das liegt daran, wer Wikipedia redigiert“, nämlich in der Mehrzahl weiße Männer. Der Mangel an Wahrnehmung der Leistungen von Frauen in der Forschung ist ein Thema, das erst in jüngerer Zeit entsprechend erkannt und korrigiert wird. Vielleicht das markanteste Beispiel ist die Rolle von Rosalind Franklin bei der Entschlüsselung der DNA-Struktur in Form einer Doppelhelix. Eine revolutionäre Erkenntnis, die über Jahrzehnte James Watson und Francis Crick zuerkannt wurde, die dafür 1962 den Nobelpreis für Medizin erhielten. Franklins Beitrag – die Britin starb 1958 – wurde einfach verschwiegen. Erst im April 2023 rückte eine Veröffentlichung im Fachmagazin Nature 4https://www.nature.com/articles/d41586-023-01313-5 das über Jahrzehnte tradierte Bild zurecht und würdigte Franklin als „gleichberechtigte Beteiligte“ an der Entdeckung.
Feier für einen Star
Den Eintrag über Gladys West 5https://en.wikipedia.org/wiki/Gladys_West – den Wade 2018 angelegt hat – macht deutlich, was für unglaubliche Leistungen von Frauen und PoC es noch zu würdigen gilt. West war eine der farbigen „calculators“, die vor der Verbreitung von Computern nur mit Rechenschieber und Bleistift ausgestattet die Flugbahnen für die Starts der ersten NASA-Raketen vornahmen. Deren unglaubliche und lange unterschlagene Bedeutung für das Gelingen der bemannten Raumfahrt wurde 2016 in „Hidden Figures“ in das angemessene Schweinwerfer-Licht einer mehrfach Oscar-nominierten Hollywood- Produktion gerückt. (Vollständige Offenlegung eines #humblebrag: Das Ballteam hat im Jänner 2017 die Österreich-Premiere des Streifens mitveranstaltet.) Anhand des Beispiels der Mathematikerin Gladys West lässt sich erkennen, welchen Einfluss die Arbeit von Wade nicht nur auf Wikipedia, sondern auf die Öffentlichkeit hat. West hatte seit 1956 42 Jahre lang an Navigationssystemen der US-Marine gearbeitet. Ihre Berechnungen trugen wesentlich bei zur Entwicklung von GPS. Wade erzählte Forbes India 6https://www.forbesindia.com/article/lifes/jessica-wade-the-britishphysicist- making-women-scientists-visible-online/84561/1, wie sie Anfang 2018 begann sich zu informieren: „Ich habe Gladys recherchiert, um ihre Seite zu schreiben, und online gab es so wenig über sie. Gladys war fast 90 und niemand hatte sie gefeiert.“ Was folgte, war verblüffend: „Ich habe ihre Wikipedia-Seite im Februar 2018 online gestellt und im Mai 2018 stand sie auf der BBC-Liste der 100 wichtigsten Frauen der Welt. Dann wurde West in die Hall of Fame der US Air Force aufgenommen und ihr wurde die Prinz Philip Medal der Royal Academy of Engineering verliehen; eine Ehrung, die noch nie zuvor an eine Frau gegangen war.“
Bei aller Kritik an der Praxis von Wikipedia würdigt Wade die prinzipielle Rolle als Informationsquelle und Plattform zur Wissensvermittlung. Deswegen beseitigt sie mit ihren Artikeln nicht nur die bestehenden Lücken, sondern verbessert auch die Qualität vorhandener Einträge, die andere verfasst haben. Wade: „Manche Frauen ziehen sich nach Beendigung ihrer Karriere komplett zurück. Damit ihre Arbeit nicht vergessen wird, überarbeite ich die Wikipedia-Artikel und entferne falsche Informationen oder Fehlinterpretationen.“ Dabei erntete Wade sehr anerkennende Reaktionen: „Das Redigieren hat einen sehr positiven Einfluss auf das Selbstbewusstsein dieser Frauen. Es ist sehr ermutigend für sie, dass ihre Arbeit anerkannt wird.“
Wikipedia als Türsteher
Eine andere Auswirkung von Wikipedia ist die Häufigkeit von Nominierungen für Auszeichnungen, Preise und Stipendien. Auch wenn Wikipedia in der akademischen Welt nicht als sehr zuverlässige Quelle gilt, steht bei einem Beginn der Recherche oft eher ein schneller Blick in die Online-Enzyklopädie als eine sofortige Tiefenanalyse bei Google Scholar oder Research Gate. Wade: „Wenn jemand auf Wikipedia eine gut zusammengefasste Biografie hat, ist es viel einfacher, die Person zu nominieren.“ Wikipedia komme so die Aufgabe eines Türstehers zu. Mit Jessica Wade steht da jetzt eine wortstarke Autorin am Eingang in den virtuellen VIP-Club.
Jessica Wade selbst hat solche Unterstützung nicht mehr nötig. Längst gilt sie in Großbritannien und darüber hinaus als Vorbild der Wissenschaftskommunikation. Ihr sei wichtig, dass „die nächste Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Vorbilder hat, die sie inspirieren“. Übrigens: Den Wikipedia-Eintrag über sich hat sie noch nie gelesen.