YouTube unterm Zirkuszelt
Der Zirkus ist aber sowas von aus der Mode gekommen. Die Dressur von Tieren ist ungehörig, die Haltung bedrohter Arten in Käfigen längst verboten. Ältere, bunt geschminkte Männer in eigenartigen Kostümen gelten heute ebenso nicht mehr als adäquates Personal für Kinderunterhaltung. Und um Menschen mit absonderlichen körperlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zu erleben, reicht ein Griff zur Fernbedienung, ein Klick auf Youtube. Doch die Ursprünge dieser inzwischen globalen Schaulust liegen in der Manege. Und insofern ist die Kulturgeschichte des Zirkus eine aufschlussreiche Quelle, um die prinzipiellen Mechanismen dieser Schaulust und die entsprechenden Modifikationen zu begreifen. Die Kulturwissenschaftlerin Sylke Kirschnick schlägt einen Bogen von den Anfängen im späten 18. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre und präsentiert wie eine Zirkusdirektorin ihre Attraktionen: dressierte Pferde, übellaunige Raubtiere, waghalsige Artisten, rechnende Esel und jonglierende Elefanten. Als hoch populäre Unterhaltungsform werden unterm Zirkuszelt gesellschaftliche Tendenzen illsutriert: Schlangenmenschen, Fakire und Magier wecken (und stillen) exotische Sehnsüchte; der peitschenknallende Dompteur dressiert die Urgewalt der Natur. Ein üppig ausgestatteter Sachbildband, so erlebnisreich und wunderträchtig wie einst ein Zirkusbesuch.
“Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus” von Sylke Kirschnick, Theiss, 200 Seiten, € 41,10
Experimenteller Roman
Irgendwie ist das ein altmodisches Buch. Die Geschichte vom 11-jährigen Simon, der die Sommerferien bei den Großeltern im Dorf mit sagenumwobener Burgruine verbringt, klingt ein bisschen nach der dankenswerterweise längst verschollenen Kategorie „Jugendbuch“. Aber die Idee hat durchaus seinen Charme. Denn in dem Roman von Michael Zeidler stecken zwölf Experimente, die gelöst (oder so wie Prüfungen bestanden) werden müssen, wollen Simon und seine Freunde herausfinden, wie die Westerburger aus einem tausendjährigem Schlaf erweckt werden sollen. Dazu müssen die Halbwüchsigen schnurgerade Linie auf dem Marktplatz ziehen, die Höhe eines Baumes messen, ein Gemisch aus Salz, Pfeffer und Wasser trennen und erkennen, welcher der drei Metallarmreifen wirklich aus Kupfer ist. Mit anderen Worten: Was ist ein Hebel und wozu braucht man den Satz des Pythagoras? Was versteht man unter dem archimedischen Prinzip? Wie trennt man Stoffe? Und was sind Basen und Säuren? Animiert geschrieben und naturwissenschaftlich fundiert ist dem Autor da ein wirklich nettes Buch gelungen, ganz altmodisch gesagt.
„Abenteuer mit Archimedes, Pythagoras & Co. Roman mit 12 Experimenten“ von Michael Zeidler, Stories & Friends, 300 Seiten, € 20,50
Die Besprechungen der folgenden Titel werden im Lauf des Februars im Blog freigeschalten.
„Zoo der imaginären Tiere“ von Ernst Strouhal und Zeichnungen von Dasha Zaichenko und Lukas Novak, Christian Brandstätter Verlag, Leporello, € 35,-
„Vogelhochzeit. Von der Balz bis zum Nestbau“ von James Perry, übersetzt von Susanne Schmidt-Wussow. Haupt, 160 Seiten, € 41,10
„Vermächtnis“ von Jared Diamond, übersetzt von Sebastian Vogel, S. Fischer, 586 Seiten, € 25,70
„Unconscious Places“ von Thomas Struth mit einem Vorwort von Richard Sennett, Schirmer/Mosel, 264 Seiten, € 90,50