17|06|28: Facts, what else?

Der Herausgeber des Branchenmagazins „Der österreichische Journalist“, Georg Taitl, hat für die Jubiläumsausgabe zum 30. Geburtstag der Fachpublikation ein Interview mit mir geführt. Zur Bestellung der Druckausgabe und zum Download als e-paper geht es hier entlang. Die ungekürzte Fassung findet sich im Anschluss.

 

Facts, what else?

Oliver Lehmann brennt für den Wissenschaftsjournalismus. Den Verlagen rät er, dessen Potenziale zu nützen. Viele Tageszeitungen machten das schon vorbildlich. ORF TV hinke aber nach.

Sehen Sie „The Big Bang Theory“ im TV?

Ja, klar. Hervorragende Unterhaltung, die wie jede gute Comedy auf mehreren Ebenen funktioniert. Eine davon ist die Wissenschaft.

Kann so eine Sitcom Interesse an Wissenschaft wecken?

Vordergründig kann sie helfen, Wissenschaft als „normale“ Beschäftigung zu positionieren. In „How I met your mother“ üben die Protagonisten klassische Berufe aus: ein Anwalt, eine Lehrerin, eine Journalistin und ein Architekt. „The Big Bang Theory“ präsentiert Forscherinnen und Forscher. Die tiefere Bedeutung dieser Serie liegt darin, Naturwissenschaft als Teil eines kulturellen mainstreams darzustellen, als regulären Bestandteil der Gesellschaft.

OL mit Helga Nowotny, Gründungsmitglied und Präsidentin des European Research Council 2010-2013, und einem Aloosauraus beim Vienna March for Science am 22. April 2017 / Foto: Stefan Regenfelder

Versteht der durchschnittliche Sitcom-Schauer die Physikwitze überhaupt?

Möglicherweise nicht. Darum geht es aber auch nicht. Die Serienerfinder Chuck Lorre and Bill Prady haben nämlich eine ganz wichtige Regel der Wissenschaftskommunikation erkannt und genutzt: Wenn man schon nicht die Formeln, Statistiken und Erkenntnisse vermitteln kann, dann jedenfalls die Begeisterung, mit der die WissenschaftlerInnen ihre Forschung betreiben. Bemerkenswert ist übrigens, dass die Forscher in „The Big Bang Theory“ eher als verkorkst dargestellt werden, die Forscherinnen als patent und selbstbewusst.

Viel von Wissenschaft bleibt ja in der Sendung nicht mehr übrig. Ist’s im Wissenschaftsjournalismus auch so – je einfacher, je boulevardesker, desto mehr Leser, Zuseher?

Einspruch. Die Korrektheit der Wissenschaft im „Big Bang Theory“-Skript wird geprüft, unter anderem von der Darstellerin der Amy Farrah Fowler, Mayim Bialik, die eine promovierte Hirnforscherin ist. Die vermeintlich sehr blonde Kellnerin Penny hat eine besonders wichtige Rolle, weil sie mit ihren Fragen sogenannte Sokratische Dialoge ermöglicht, eine Lehrmethode der griechischen Philosophie, wie sie von Platon beschrieben wurde. Das Publikum wird also – ob es will oder nicht – mit Wissenschaft konfrontiert. So wie übrigens auch im richtigen Leben und dementsprechend in den Medien. Unser Leben ist durchdrungen von den Erkenntnissen der Wissenschaft und ihren technologischen Anwendungen. Sehr oft wird dieser Zusammenhang zwischen Alltag und Forschung aber nicht erkannt. Aufgabe von gutem Journalismus ist es, die Zusammenhänge sichtbar zu machen und Angebote zur Entdeckung der Zusammenhänge zu liefern. Aufgabe von gutem Wissenschaftsjournalismus ist es, diese Zusammenhänge zu erläutern.

Der technische Analphabetismus heutzutage entspricht wahrscheinlich dem echten Analphabetismus im Mittelalter. Bei der Wissenschaft dürfte es noch schlimmer aussehen. Können Journalisten über den aktuellen Stand der Wissenschaft berichten? Das versteht doch niemand, oder?

Ich muss kein Automechaniker sein, um ein Auto fahren zu können. Es ist heutzutage verdammt schwierig, den Überblick über nur ein Fachgebiet zu haben; von der gesamten Wissenschaft gar nicht zu reden. Das geht übrigens der scientific community genauso wie Laien. Deswegen ist es so wichtig sich die Grundbegriffe von Wissenschaft wie einen Werkzeugkasten anzueignen, um sich damit in angemessen kurzer Zeit einen Überblick über das jeweilige Gebiet zu verschaffen. Also: Was ist ein These, was ein Beweis? Wie kann aus der Evidenz (also dem Auftreten und der Wahrnehmung von Phänomenen und Ereignissen) ein Modell geformt werden, das Aussagen über das zukünftige Auftreten von Phänomenen und Ereignissen ermöglicht? Es ist sehr lohnend, sich mit einem der wichtigsten Wissenschaftstheoretiker überhaupt zu befassen, dem aus Österreich vertriebenen Sir Karl Popper, der die Begriffe Falsifikation und Verifikation geprägt hat, zwei Schlüsselbegriffe in Zeiten von fake news! Mir hat ein Gedanke sehr geholfen: Die Wissenschaft entstand und lebt davon, Veränderungen in der Natur und in der Gesellschaft zu beschreiben und begreifbar zu machen. Der Journalismus nimmt diese Veränderungen in sehr kurzen Zeiträumen wahr; die Wissenschaft ermöglicht es, diese Zeiträume zu erweitern, filmisch gesprochen ein zoom-out auf die Totale. Durch diesen Überblick werden plötzliche Zusammenhänge klar, die im journalistischen Alltag verschleiert bleiben.

Versuchen wir es mal. Was macht Anton Zeilinger mit seinen Verschränkten Photonen?

Kurz gesagt: Experimente, um die (von Albert Einstein so genannte) spukhafte Fernwirkung von ursprünglich vereinten und dann getrennten Teilchen zu verstehen und irgendwann einmal nutzbar zu machen. Wenn ich nun zum Beispiel die Rotation von Teilchen A ändere, ändert sich sofort auch die Rotation von Teilchen B. Physikerinnen und Physiker nennen diese Verbindung eine Verschränkung. Um den Charme dieser Versuche tatsächlich ermessen zu können, brauchen wir etwas Grundwissen, etwa dass Phänomene der atomaren Quantenwelt unserer Lebenswelt widersprechen, siehe die Verschränkung. (Übrigens: Um einen guten Wein, ein faszinierendes Bild oder einen funkelnden Sternenhimmel genießen zu können, ist es ebenso hilfreich, sich Grundwissen anzueignen.) Entscheidend an Zeilingers Forschung ist nicht das schnell verständliche Ergebnis, sondern der Prozess, die Veränderung. Zeilingers Forschung basiert unter anderem auf den Erkenntnissen von Einstein vor einem Jahrhundert und bildet wiederum die Grundlage für die Forschung kommender Generationen. Ein Vorgänger Zeilingers, der große Isaac Newton, hat dieses Prinzip im 17. Jahrhundert so formuliert: „If I have seen further, it is by standing on the shoulders of giants.“ Dieser Gedanke fasziniert mich: Dieses Prinzip der Wissenschaft ermöglicht uns Reisen durch Zeit und Raum – und das ganz ohne „Beam me up, Scotty!“

Journalismus ist meist gut, wenn er Geschichten erzählt. Geht das in der Wissenschaft?

Ja, und wie. Zum Beispiel die Geschichte der Erforschung des HI-Virus. Vor 30 Jahren galt AIDS als Todesurteil, heute als lästige chronische Erkrankung mit einer normalen Lebenserwartung für die Betroffenen. Ermöglicht wurde diese Erfolgsgeschichte durch die Forschung (übrigens auch maßgeblich in Österreich), die erst die Grundlagen erkannte und dann die Behandlungsmethoden davon ableitete. Der Journalismus hilft übrigens dabei, uns an die Panik in den 1980er-Jahren zu erinnern, siehe Cover von Spiegel, Time oder profil aus jenen Jahren. Das Tolle an dieser Geschichte, sind die Erkenntnisse, die sich daraus ableiten lassen: Die fundamentale Rolle der Grundlagenforschung, die nicht von der Industrie, sondern von der öffentlichen Hand finanziert wird; die Bedeutung der internationalen Vernetzung von Wissenschaft zum intensiven Austausch von Resultaten; die Beharrlichkeit, mit der selbst bei Rückschlägen weiter geforscht wird; die Kooperation von Wissenschaft und Industrie bei der Herstellung der Medikamente; die Rolle der Medien und der Pop-Kultur bei der Aufklärung. Jede große wissenschaftliche Herausforderung ist wie ein Bergwerk an guten und spannenden Themen. Deswegen lohnt es sich für Journalistinnen und Journalisten auch, sich in solche Themen einzuarbeiten und dran zu bleiben. Und deswegen sollten Medienunternehmen ihnen auch diese Zeit einräumen.

Muss man trennen – in harten, „richtigen“ Wissenschaftsjournalismus und in Boulevard?

Nein, muss man nicht. Für das gesamte Medienspektrum gilt: Unterschätze niemals die Anziehungskraft einer guten Geschichte. Beide Pole erfüllen unterschiedliche Aufgaben, die man nicht miteinander verwechseln sollte. Ein Fünf-Zeiler in Heute wird niemals die Tiefe eines science.orf.at-Reports erreichen. Aber Heute kann auf seiner Homepage einen weiterführenden Link zum Report setzen. Wichtig und unumstößlich ist in allen Fällen der Grundsatz: Facts, what else?

Helfen Sie uns – Was müssen wir lesen, ansehen, um auf der Höhe der aktuellen Wissenschaft zu sein?

Für den schnellen Überblick: science.apa.at, science.orf.at und auf Ö1 „Wissen Aktuell“. Zur Vertiefung profil, Der Standard, Die Presse, Wiener Zeitung und „Dimensionen“ auf Ö1 sowie einige gallische Dörfer wie im Kurier, in den SN, der TT und der Kleinen Zeitung. Ich sage Ihnen auch gerne, was Sie sich nicht ansehen müssen, weil Sie dort nicht kontinuierlich informiert werden: ORF 1, ORF 2 und ORF 3.

Und Online und Blogger?

Florian Freistetter, Florian Aigner und Martin Moder. Und auf Facebook natürlich: I Fucking Love Science

Liegt das Problem der Unverständlichkeit gar an der Wissenschaft selbst? Hinkt die Wissenschaftskommunikation hinterher?

Das hat im deutschsprachigen Raum was für sich, ist aber in den letzten Jahren viel besser geworden. Ich hatte selbst die Gelegenheit mit dem „Wiener Ball der Wissenschaften“, der 2018 schon zum vierten Mal im Wiener Rathaus stattfinden wird, ein sehr traditionsreiches Veranstaltungsformat mit den Erkenntnissen der Forschung neu aufzuladen. Der „Vienna March for Science“ am 22. April dieses Jahres als eine von 600 Demonstrationen weltweit ist ein weiteres erfolgreiches Beispiel, dass sich Wissenschaftskommunikation nicht auf Presseaussendungen beschränken muss. Die „Science Busters“ rund um Martin Puntigam und die „Science Slams“ von Bernhard Weingartner sind Formate, die illustrieren, wie öffentlichkeitstauglich und publikumswirksam Wissenschaft kommuniziert werden kann.

Sie sind Vorsitzender des Klubs der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen. Wie kommt Wissenschaftsjournalismus raus aus der Nische? Oder ist der Befund des Nischendaseins falsch?

Nicht der Wissenschaftsjournalismus steckt in der Nische, sondern der klassische Journalismus manövriert sich unter der Leitung der allermeisten Verlage dort immer weiter hinein. Was tun? Die Chance des krisenhaften Erlösmodells erkennen, sich auf die aufklärerischen Qualitäten des Journalismus besinnen und die Potenziale des Wissenschaftsjournalismus nutzen. Genau auf diesem Feld gibt es spannende Geschichten und verblüffende Fakten, deren Darstellung es ermöglicht, 1) die um sich greifende Panik und Hysterie der Gegenwart zu entkräften, 2) positive, weil am wissenschaftlichen Prozess orientierte Erkenntnisse beim Publikum auszulösen und 3) eine ebenso kritische wie konstruktive Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und ihren Grundlagen zu initiieren. Zwei konkrete Maßnahmen, die sich kurzfristig umsetzen lassen: 1) Festschreibung von Wissenschaft als Förderungskriterium bei der gesetzlichen Neugestaltung der Medienförderung; 2) die ordentliche Wahrnehmung von Wissenschaft im ORF-Fernsehen durch Generaldirektor Wrabetz, der endlich die Rolle des ORF als Leitmedium anerkennen muss, an dem sich andere Medienunternehmen aber eben auch die Politik orientieren.

Können Sie empfehlen, Wissenschaftsjournalist zu werden?

Ja, ohne Einschränkungen.

Wie wird man überhaupt Wissenschaftsjournalist?

Ich wurde es, weil mich die Politik zu langweilen begann. Und weil ich in Großbritannien und in Deutschland erlebt hatte, wie spannend dieses Feld ist.

Muss ein Wissenschaftsjournalist Wissenschafter sein?

Nein, es kann aber nicht schaden.

Kann man davon leben?

Es geht. Laut der vom Klub der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen 2013 veröffentlichen Studie „Die Magnetnadel im Heuhaufen“ verdienen die KollegInnen weniger als in den anderen Ressorts, beschreiben aber ihre Arbeit als deutlich befriedigender. Ich meine, diese Befriedigung lässt sich auch auf die LeserInnen übertragen.

Wie viele leben davon in Österreich?

Hauptberuflich etwa 60 KollegInnen. Darüber hinaus machen viele Kolleginnen und Kollegen Wissenschaftskommunikation und PR oder schreiben über andere Themen, um sich Wissenschaftsjournalismus leisten zu können.

Was gehört alles zum Wissenschaftsjournalismus?

Jede Form der Berichterstattung über Themenfelder, die sich an der oben skizzierten wissenschaftlichen Methode orientiert. Anders: Geht es um Erkenntnis, ist es Wissenschaft. Geht es um Gewinn, ist es Wirtschaft. Geht es um Macht, ist es Politik.

Was sind seine Aufgaben?

Fragen. Und Antworten (im Sinne von Erläuterungen, um die großen Zusammenhänge den Leserinnen und Lesern verständlich zu machen).

Abschließende Frage: Macht jetzt ein Baum Lärm, wenn er im Wald umfällt und niemand dabei ist, oder nicht?

Ich komme gerade aus dem Wald. Die Antwort der Naturwissenschaften ist „Ja“, die der Philosophie je nach Ausrichtung „Kommt drauf an“. Wirklich spannend ist auch hier nicht die schnelle Antwort, sondern die intellektuelle Herausforderung: Wie entsteht Lärm (und was ist Stille)? Warum ist der Baum umgefallen? Ist das ein Anzeichen für eine Biotopveränderung, die auf den Klimawandel zurückzuführen ist? Bei all diesen Fragen sollte man sich an den US-amerikanischen Science-Fiction-Autor (und Professor für Biochemie) Isaac Asimov halten: „Die aufregendste Phrase, die man in der Wissenschaft zu hören kriegen kann, ist nicht ‚Heureka’, sondern ‚Das ist aber komisch…’“

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Oliver Lehmann war Gründungschefredakteur des Universum Magazin und ist heute Leiter der Abteilung für Stakeholder Relations am IST Austria, freier Autor sowie Vorsitzender des Klubs der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen und Honorary Secretary des europäischen Dachverbands der WissenschaftsjournalistInnen (EUSJA). Seit 2015 organisiert er den „Wiener Ball der Wissenschaften“ (und 2017 den „Vienna March for Science“). Er ist zudem Namensgeber der Hydraena oliverlehmanni, einem Zwergwasserkäfer mit Vorkommen in der Provinz Fujian (China). (www.oliverlehmann.at)