Editorial des Ballmagazins 2023. Zu den Fotos der Nacht hier entlang.
Die Erkenntnis ist ganz simpel, auch wenn es simple Gemüter gibt, die den Zusammenhang nicht verstehen wollen: Die Rückkehr auf das Tanzparkett wird uns ermöglicht durch die Wissenschaft. Und sie wird auch nötig sein, um die ganz großen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen: Demographie, Digitalisierung, Mobilität, Energie und Klima. Oder wie unlängst auf Twitter gesehen: „Every story is a climate story.“ Die Felder sind entweder teilweise oder ganz zentral von der Frage betroffen, wie wir den Klimawandel und seine katastrophalen Auswirkungen bewältigen werden.
Auch der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine (Seite 42) oder die Gewalt des Mullah-Regimes gegen das iranische Volk und die Forderung „Frauen, Leben, Freiheit“ sind Klimageschichten. Die Aggressoren finanzieren sich durch Ausbeutung von Kohlenwasserstoffen – und haben intern längst erkannt, dass dieses Zeitalter zu Ende geht, weswegen sie noch einmal versuchen, ihre Macht für alle scheinbaren Ewigkeiten zu festigen.
Das Ende der Kohlenwasserstoff-Ära ist unausweichlich. Einzig offen ist die Frage, ob durch finalen Raubbau mit entsprechendem Tritt auf das Gaspedal der globalen Erwärmung oder durch den mühsamen, vermeintlich teureren, aber in Wirklichkeit ein-zig vernünftigen Umstieg auf eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft, mit der liberale Gesellschaften den ölproduzierenden Autokraten die Geschäftsgrundlage entziehen.
Mit dem 8. Wissenschaftsball feiern wir den 200. Geburtstag des Pioniers der Genetik, Gregor Mendel, am 20. Juli 1822. Genau dessen Erkenntnisse sind heute unter anderem nötig, um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Evolution zu ermessen. Ein weiterer Grund für Mendels Präsenz am Ball ist seine Rolle als Netzwerker der Wissenschaft zwischen Wien und Brünn im 19. Jahrhundert – eine Tradition, die wir mit der Einladung an das Mendel Museum in Brünn hochleben lassen (Seite 12). Als Gastgeschenk bringt uns Direktorin Blanka Křížová die wahrscheinlich größte Erbse der Welt (7 Meter!) mit. Und Mendels Modellorganismus, die Erbse, ist das Ausgangsmaterial von vega-nen Lebensmitteln, die wir als Kostproben beim Ball auftischen. (Seite 18)
Unser mit rund 30.000 Jahren wohl ältester Ehrengast weiß einiges über Adaptionsfähigkeit des Homo sapiens auf sich verändernde Umweltbedingungen zu erzählen. In Kooperation mit dem Naturhistorischen Museum, der Designerin Michél Mayer und der Mode- und Textilaktivistin Nunu Kaller haben wir der Venus von Willendorf (eigentlich ihrer Replika) ein Ballkleid schneidern lassen (Seite 26). Die elegante Robe in Silber eröffnet nicht nur den Blick auf Frauenrollen seit der Urzeit und dem male gaze auf Streaming-Plattformen, sondern auch auf Körperwahrnehmungen und Mode-trends im Kontext eines Traditionsballs.
Die meisten Texte in diesem Magazin stammen von jungen Menschen, die früh in den Wissenschaftsjournalismus eingestiegen sind: Hannah Müller und Dorian Schiffer haben parallel zu ihren Studien an der Universität Wien ihre ersten medialen Erfahrungen bei „Alexandria“, einem jüngst etablierten Wissen-schaftsmagazin, gesammelt. Und Denise Meier hat nach ihrem Abschluss des Journalismus-Lehrgangs an der FH Wien der WKW direkt bei Puls4 angefangen. Diese jungen Menschen und ihre Geschichten machen Mut.
Oliver Lehmann
Vorsitzender des Ballkomitees