Am 12. April 2019 haben wir Traudl Schmidt (1940-2019) auf dem Neustifter Friedhof oberhalb von Wien auf ihrem letzten Weg begleitet. Ihr Sohn Peter hatte mich um einige Worte gebeten.
Liebe Familie, liebe Trauergemeinde!
Traudl und ich veröffentlichten 2001 das Buch „In den Fängen des Dr. Gross. Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel“. Peter hat mich gebeten, über diese Arbeit zu sprechen und – ich zitiere – „wie Du meine Mutter dabei erlebt hast. Ich glaube, das würde sie freuen – weil sie darauf immer sehr stolz war.“
Im Herbst 2000 fragte mich der Verleger Hubertus Czernin, ob ich den Fall Gross kenne. Zwar seien die wesentlichen Fakten – nicht zuletzt dank Recherchen von Erika Wantoch und Marianne Enigl – bekannt. Aber die Tatsache, dass eines seiner Opfer, eben nämlich Friedrich Zawrel, Jahrzehnte danach noch immer nicht rehabilitiert sei, sei ein Skandal und Anlass genug für ein Buch. Den Kern dieses Buches sollten Gespräche mit Friedrich Zawrel bilden.
Nachdem Traudl 1998 in Pension gegangen war, hatte sie begonnen Zeitgeschichte zu studieren. Sie nahm das Studium sehr ernst, auch wenn sie selber kein großes Aufhebens darum machte. Ich fragte sie rund um Weihnachten 2000, ob sie sich vorstellen könne, das Buch gemeinsam mit mir zu verfassen. „Glaubst Du, ich kann das?“, kokettierte sie. Es brauchte nicht viele Argumente, sie zu überzeugen. Ihr historisches Interesse, ihr wacher politischer Geist, ihre unverrückbare Überzeugung an die positive Veränderbarkeit der Welt, kurz: ihr solidarisches Wesen, ließen ihr eigentlich keine andere Möglichkeit, als dieses Arbeit anzugehen.
Im Mittelpunkt des Projekts standen die Interviews mit Friedrich Zawrel, die wir in den ersten Wochen des Jahres 2001 in seiner kleinen, ein wenig muffigen, weil überheizten Dachgeschoßwohnung eines Gemeindebaus in Ottakring führten. Die Bücher bis an die Decke waren Zeugen seiner unglaublichen Metamorphose: vom vernachlässigten Straßenkind in Kaisermühlen und Opfer nationalsozialistischer Medizinverbrechen, das der Willkür von Gross und anderen Tätern ausgesetzt war und sich trotzdem nicht brechen ließ, zum höchst kundigen und belesenen Zeitzeugen. Zawrel erzählte, leise, präzise, eindringlich. An jenen Stellen, an denen seine Erzählung ein wenig zu glatt oder zu schnell geriet, weil er sich nicht im Detail erinnern konnte oder auch wollte, hakten wir nach. Ich etwas beharrlicher, Traudl aber mitfühlender. Wir waren ein gutes Team. Die Aufzeichnungen sind auch heute, bald zwei Jahrzehnte danach, ein eindringliches Dokument der Misshandlung eines unschuldigen Kindes.
Aber die Geschichte hört eben hier nicht auf. Eigentlich beginnt sie erst hier: Zawrel erzählte von seiner Karriere als Kleinkrimineller in den Nachkriegsjahren und seiner Wiederbegegnung mit Gross. Der war inzwischen zum führenden Gerichtspsychiater Österreichs aufgestiegen und nutzte seine Macht skrupellos, um Friedrich Zawrel erneut hinter Gitter und damit zum Schweigen zu bringen. Es ist Medizinern wie Werner Vogt und Michael Hubenstorf zu verdanken, dass Gross das Handwerk gelegt wurde, dass Zawrel ein neues Leben beginnen konnte.
Bei der Recherche zu diesem Teil entwickelten wir das eigentliche Leitmotiv des Buches, das über die Lebensgeschichten von Heinrich Gross und Friedrich Zawrel hinausging. Indem wir die beiden Lebensgeschichten parallel erzählten, gelang es uns, die Kontinuitäten von herabwürdigender Sozialarbeit, eugenisch basierter Verwertungslogik, gewalttätiger Psychiatrie und gedankenloser Parteibuchwirtschaft zur Sicherung der eigenen Machtsphäre über die Jahrzehnte freizulegen.
Das Elend daran: Diese Taten erfolgten nach 1945 unter dem Schutz, mit Billigung oder gar Unterstützung der österreichischen Sozialdemokratie, speziell des Bundes Sozialistischer Akademiker (BSA). Auch das war nicht völlig unbekannt gewesen. Aber diese Geschichte derart exemplarisch anhand von zwei Lebensläufen zu erzählen, war in dieser Eindringlichkeit neu. Für mich war es – journalistisch betrachtet – eine gute Geschichte. Für Traudl war es eine Katastrophe: Zum einen der Eindeutigkeit der Fakten wegen. Zum anderen aber – und das traf Traudl ins Mark – wegen der feigen und bösartigen Reaktionen einiger ihrer eigenen Genossinnen und Genossen, die uns nach Kräften bei der Recherche behinderten und uns verleumdeten. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung im Wiener Gemeinderatswahlkampf 2001, als eine Spitzenkandidatin von der Bühne herab Traudl und mich, die wir im Publikum saßen, zwar nicht namentlich aber problemlos identifizierbar der Nestbeschmutzung beschuldigte. Ich nahm es als Bestätigung, dass wir auf der richtigen Spur waren. Traudl nahm es persönlich.
Und so wurde dieses Buch auch zum Anlass für Traudls Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie. Deren Prinzipien blieb sie „trotz alledem, trotz alledem“ immer verbunden. Immerhin: 2004 veröffentlichte der BSA eine Untersuchung über NS-Täter in seinen Reihen. Die Präsentation unseres Buchs 2001, die erwähnte BSA-Studie, am meisten vielleicht aber die vollständige juristische Rehabilitierung von Friedrich Zawrel empfand Traudl als Bestätigung ihrer Arbeit – und auch ihrer Auseinandersetzung mit der SPÖ.
Ein letztes Mal trafen wir Friedrich Zawrel gemeinsam 2013 bei der Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik. Eindrücklicher als die Festreden im Audienzsaal des Unterrichtsministeriums am Minoritenplatz waren die vielen Schülerinnen und Schüler, die sich nach dem Festakt mit Blumen anstellten, um Zawrel für seine Vorträge an ihren Schulen zu danken, viele mit unserem Buch in der Hand. Zawrel war – zwei Jahre vor seinem Tod – endlich und hochverdient Gerechtigkeit widerfahren. Lange saßen wir an diesem heißen Frühsommertag hinten im Audienzsaal und betrachteten das Defilee. Unsere Arbeit war getan.
Und heute ist hier meine Arbeit getan. Ich kehre an den Anfang zurück: Traudl, Du hast jeden Grund gehabt, auf dieses Buch stolz zu sein. Und wir haben jeden Grund dankbar zu sein, weil wir Dich gekannt haben.
Lehmann O. und Schmidt T., (2001): In den Fängen des Dr. Gross, Czernin Verlag, Wien