Auf Einladung von Chefredakteur Erhard Stackl habe ich für die Ausgabe 2018/2019 des Jüdischen Echos einen Bericht über die Gemeinsamkeiten des Weizmann Institute in Rehovot und dem Institute of Science and Technology Austria in Klosterneuburg geschrieben. Die Ausgabe steht unter dem Motto „Israel – ein junger Staat mit 70. Zwischen Start-up-Modernität und Auslöschungsdrohungen“. Die Texte befassen sich mit dem seltsamen Auf und Ab der österreichisch-israelischen Beziehungen und den Herausforderungen, denen Israel heute gegenübersteht.
Ein Campus zwischen Buchenforst und Zitronenhain
Das IST Austria, 2009 in Klosterneuburg bei Wien gegründet, ist nicht das einzige, aber das wohl sichtbarste Forum der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Österreich und Israel.
Ein Bericht von Oliver Lehmann
Auf den ersten Blick haben Maria Gugging im Kierling-Tal und Rehovot im Zentrum Israels nicht viel gemeinsam. Prägen dichte Laubwälder die Umgebung des Ortsteils von Klosterneuburg, dominieren in der Ansiedlung polnischer Zionisten Citrus- und Mandelbäume die Vegetation. Am ehesten lässt sich noch die Entfernung zu den Metropolen miteinander vergleichen: Von Gugging sind es 20 Kilometer auf den Wiener Stephansplatz, von Rehovot 25 Kilometer zum Dizengoff-Platz in Tel Aviv. Und dann gibt es noch eine Gemeinsamkeit.
Mitte Juni 2018: Gašper Tkačik, Professor am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) und sein Kollege Elad Schneidman vom Weizmann Institute stellen gerade eine Skype-Verbindung her. Sie besprechen ihr jüngstes Projekt: ein gemeinsamer Vortrag zu der Frage, wie Informationen in Nervenzellen gespeichert werden. Tkačik stammt aus der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, wo er Theoretische Physik studierte, bevor er in Princeton (USA) seine Doktorarbeit in diesem Fach verfasste und 2011 an das damals neu gegründete IST Austria wechselte.
Inzwischen befasst sich Tkačik gemeinsam mit Elad Schneidman mit Computational Neuroscience, wie sich das Thema in Englisch, der heutigen lingua franca der Wissenschaften, nennt. Grob gesagt geht es um die informationsverarbeitenden Eigenschaften des Nervensystems – einem Fachgebiet, in dem Kenntnisse der Biologie, Medizin, Psychologie sowie der Mathematik, Physik und Informatik gefragt sind.
Derartige Kooperationen sind in der Welt der Wissenschaft absolut üblich: Quer über die Grenzen von Staaten und Institutionen hinweg organisieren sich WissenschaftlerInnen selbstständig, einzig getrieben von ihrer Wissbegierde an gemeinsamen Themen. Als Qualitätsrichtlinien dienen Veröffentlichungen in Fachjournalen, Vorträge auf Konferenzen und Auszeichnungen mit Wissenschaftspreisen. Und so kommt es, dass Gašper Tkačik am IST Austria und Elad Schneidman am Weizmann Institute miteinander kooperieren, so wie sechs weitere Teams, die sich zum Beispiel mit Pflanzenwachstum, sozialer Immunisierung von Ameisen und Kryptographie befassen – quasi auf einem virtuellen Campus zwischen Buchenforst und Zitronenhain.
Von Israel lernen
Ortswechsel nach Jerusalem: Anfang Juni 2018 unterzeichnen Wissenschaftsminister Heinz Faßmann und sein Kollege Ofir Akunis ein neues Forschungsabkommen zwischen Israel und Österreich; das ursprüngliche Abkommen war im Jahr 2000 von israelischer Seite sistiert worden. Mit dem neuen Abkommen wird vor allem die Kooperation des Wissenschaftsfonds FWF mit seinen israelischen Partnern vereinfacht. Die bestehende Zusammenarbeit soll auf eine neue Ebene gehoben werden und erstmals von Israel und Österreich gemeinsam finanzierte, wissenschaftliche Forschung ermöglichen. Ziel ist, die Stärkefelder beider Wissenschaftssysteme zu nutzen und zusammenzuführen.
Eine Lektion, die Österreich von Israel lernen kann, ist die vorbildliche Finanzierung der Grundlagenforschung und die ökonomische Verwertung dieser Ergebnisse. 2016 wurden in Österreich insgesamt 10,74 Mrd Euro für Forschung und experimentelle Entwicklung ausgegeben, was 3,07 % des BIP entspricht. Israel hingegen liegt mit 4,11 Prozent des BIP für F&E Ausgaben (2016) in der Weltspitze.
Bis in die 1990er Jahre ließ sich die Geschichte der österreichisch-israelischen Beziehungen auf wissenschaftlichem Gebiet sehr einfach erzählen: WissenschaftlerInnen, Gelehrte und Intellektuelle, die die Nazis ab 1938 nicht ermordet oder vertrieben (und die Klerikalfaschisten ab 1934 nicht vergrault) hatten und nach Palästina fliehen konnten, waren derartigen Beziehungen nur selten zugeneigt; auch deswegen, weil nach 1945 das neue Österreich kaum Interesse an einer Rückkehr der vertriebenen Intelligenz zeigte. Friedrich Stadler und Peter Weibel haben diese „Vertreibung der Vernunft“ (Springer, 1995) und Klaus Taschwer deren Ursprung am Beispiel der Universität Wien in „Hochburg des Antisemitismus“ (Czernin, 2015) dokumentiert.
Mühsame Anfänge
Dazu mag kommen, dass die Ankunft in Palästina oft mit erheblichen Schwierigkeiten inklusive Berufswechsel verbunden war. In einem Brief des Ärzteverbands an das Zentralbüro deutscher Juden im September 1938 heißt es: „Wir sehen uns gezwungen, darauf hinzuweisen, daß angesichts der sich ständig verschlechternden wirtschaftlichen Lage die Zahl der arbeitslosen Ärzte in der letzten Zeit angestiegen ist (…) Darüber hinaus bringt jedes Schiff Ärzte aus Österreich ins Land, die nackt und bloß ohne einen Groschen in der Tasche und wirklich Hunger leidend hier eintreffen (…) Ärzte aus Deutschland und Österreich stellen mehr als die Hälfte der jüdischen Ärzte im Land und einen bedeutenden Anteil an Arbeits- und Einkommenslosen.“ (aus: Weinzierl E., Kulka O.D., Anderl G., „Vertreibung und Neubeginn: israelische Bürger, österreichischer Herkunft“, S. 395, Böhlau Verlag Wien, 1992).
Für die jüngere Generation stand der Aufstieg in der neuen Heimat im Vordergrund, forderte dieser doch oft beträchtliche Anstrengungen. David Kohn beispielsweise (Jg. 1920) floh 1938 nach Palästina: Statt von seiner Heimatstadt Baden mit der Straßenbahn an die Universität Wien zu pendeln, werkte er als Hafenarbeiter und Fleischausträger, um sein Studium der Elektrotechnik in Haifa zu finanzieren. (ebd, S. 94f.)
Neubeginn in Alpbach
Wissenschaftliche Kooperationen bildeten in den folgenden Jahrzehnten die Ausnahme und waren auf individuelle Partnerschaften beschränkt. Vor gut zehn Jahren veränderte sich dieses Verhältnis. Die Wurzeln dafür liegen in den Tiroler Bergen, genauer in dem pittoresken Ambiente von Alpbach. 2002 forderte dort im Rahmen des Europäischen Forums der Quantenphysiker Anton Zeilinger die Etablierung einer „Flaggschifforganisation“ für Spitzenforschung in Österreich. Die Idee, entstanden im Kontext gesamteuropäischer Anstrengungen im Wettbewerb mit den USA und Asien, nahm Fahrt auf. Nach einigen Querelen den Heimathafen betreffend, wurde Klosterneuburg bei Wien als Ankerplatz gewählt und das IST Austria per Bundesgesetz im März 2006 gegründet.
Die inhaltliche Orientierung der neuen Einrichtung wurde maßgeblich von einer dreiköpfigen Expertenkommission und dessen Bericht geprägt: Olaf Kübler war langjähriger Präsident der ETH Zürich, der wohl erfolgreichsten Universität auf dem europäischen Festland; Hubert Markl leitete die Max-Planck-Gesellschaft; und Haim Harari – der Vorsitzende der Kommission – war von 1988 bis 2001 Präsident des Weizmann Instituts in Rehovot. Als Kontaktmann zu diesem Team fungierte der Geschäftsführer der Industriellenvereinigung Wien, Thomas Oliva, der wiederum Mitglied des Freundesvereins des Weizmann Instituts in Österreich war – und zudem über lange Jahre maßgeblicher Gestalter der Technologiegespräche des Forums Alpbach, dessen häufiger Gast Harari war.
Die Gültig- und Wirksamkeit des inzwischen zwölf Jahre alten Bauplans für das IST Austria ist verblüffend. Das Credo der Drei Weisen liest sich wie eine Lebensbilanz, basierend auf deren Erfahrungen im Management von weltweit herausragenden Wissenschaftseinrichtungen: „Der Weg von der Forschung – einzig motiviert von Wissbegierde – zu praktischen Erfindungen, die die Welt verändern, ist oft unvorhersehbar. Aber all diese Ergebnisse resultieren aus der Arbeit herausragender Individuen, die Forschungsteams leiten und dazu ermutigt werden, ihre eigenen wissenschaftlichen Ziele zu verfolgen. Das neue Institut (…) sollte seine wissenschaftlichen Felder auf der Grundlage der Verfügbarkeit von herausragenden WissenschaftlerInnen wählen, nur in jene Bereiche vordringen, in denen es auf der Welt einzigartig sein kann (und) das Potenzial multidisziplinärer wissenschaftlicher Interaktionen voll ausnutzen.“
Das Weizmann Institute als Vorbild
Harari, seit 2007 Präsident des Exekutivkomitee des Kuratoriums von IST Austria, fasst das Credo noch pointierter zusammen: „People over fields, quality over speed“, also etwa „Exzellente ForscherInnen vor fixen Lehrstühlen, Qualität vor Geschwindigkeit“. Für PolitikerInnen, die alle vier Jahre gewählt werden wollen, und Industrie-ManagerInnen, die alljährlich Bilanz vor der Aktionärsversammlung zu legen haben, eine ziemliche Herausforderung. Aber gerade das Weizmann Institute beweist, welche Erfolge sich anhand dieser Grundsätze erzielen lassen. 1934 vom nachmalig ersten Präsidenten Israels, dem Chemiker Chaim Weizmann, gegründet unterscheidet sich das Institut von anderen Universitäten darin, dass es sich auf die Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften fokussiert und nur Diplom- und Doktoratsstudien anbietet.
Die Ergebnisse der heute rund 2.600 ForscherInnen sind bemerkenswert: So wurde auf dem Campus 1955 mit dem WEIZAC der erste Großrechner Israels gebaut sowie die ersten Labore für Kernforschung und Teilchenbeschleunigung eingerichtet. Die bahnbrechenden Entdeckungen in der Biologie helfen nicht nur Präparate zur Behandlung von Darmkrebs und Multipler Sklerose zu entwickeln; deren beispielhafte ökonomische Verwertung in Form von Patenten und Lizenzen durch eine eigens gegründete Firma erwirtschaftet bis zu $ 100 Mio. pro Jahr und trägt maßgeblich zur Finanzierung des Forschungsbetriebs bei.
Dazu kommt ein weiterer Schwerpunkt: Über die Jahrzehnte hat das Weizmann Institute Maßstäbe in der Wissenschaftsvermittlung gesetzt. Sommerkurse für Jugendliche, Weiterbildungsmaßnahmen für MittelschullehrerInnen, Förderprogramme für hochtalentierte SchülerInnen und der Clore Garden of Science – das erste vollständig interaktive Wissenschaftsmuseum unter freiem Himmel – sind Vorbilder für Forschungseinrichtungen in aller Welt.
So auch für das IST Austria, das 2009 seinen Forschungsbetrieb aufnahm. Analog zum Weizmann Institute arbeiten 50 Forschungsgruppen (Stand Sommer 2018) in den Bereichen Mathematik und Computerwissenschaften, Biologie und Neurobiologie sowie Chemie und Physik. Präsident ist der renommierte Computerwissenschaftler Thomas Henzinger, der im heimatlichen Linz seine Studien begann, an der Cornell University und in Stanford abschloss, dann Professor in Berkeley wurde und bis 2008 an der EPFL Lausanne in der Schweiz lehrte und forschte.
Ein Kibbuz in Klosterneuburg
Das Kuratorium (einem Aufsichtsrat vergleichbar) ist in der Mehrheit mit international tätigen WissenschaftlerInnen besetzt, was entscheidend zur Unabhängigkeit des Instituts von Politik und Wirtschaft beiträgt. Zwei weitere, wenn auch eher anekdotische Analogien ist der hemdsärmelig egalitäre Umgang zwischen den ohnehin sehr flachen Hierarchien und die langen Tische in der Kantine, die KennerInnen an Speisesäle im Kibbuz erinnern.
Die bislang 600 Mitglieder des Instituts stammen aus 60 Nationen, die Arbeitssprache ist dementsprechend Englisch – übrigens nicht ohne Folgen für die Umgebung: Klosterneuburgs Bürgermeister Stefan Schmuckenschlager (ÖVP) warb im Gemeinderatswahlkampf 2015 um die Stimmen der wahlberechtigten NeubürgerInnen mit dem Slogan „The right choice for our community“ und will sie im Amtsblatt auf Englisch informieren.
Bis zum Jahr 2026 soll der 18 Hektar große Campus 90 bis 100 Forschungsgruppen mit rund 1200 Institutsangehörigen beherbergen. In unmittelbarer Nähe entsteht nach Vorbild des Weizmann Institute ein Technologiepark für Firmen mit Interesse am Kontakt mit den WissenschaftlerInnen und Zugang zu Fachlabors wie der 3D-Druckerei oder dem Reinraum zur Herstellung von Chips für Prototypen von Quantencomputern.
Die für dieses Wachstum nötige Finanzierung des IST Austria nimmt ebenfalls Anleihen am Weizmann Institute. Nur zwei Viertel des Budgets für die ersten 20 Jahre sind vom Bund garantiert. Will das Institut auf die geplante Größe wachsen, muss es selber ein Viertel erwirtschaften, das dann vom Bund verdoppelt wird. Wesentliche Quellen dafür sind neben dem Technologiepark und den Erlösen aus Patentierungen und Lizenzen, Forschungsförderungspreise und Spenden.
Gemeinsame Erfolgsbilanz
Die mittlerweile wichtigste Kategorie der Forschungsförderung sind die Preise des 2007 gegründeten European Research Council (ERC), dessen Mittel im kontinentalen Wettbewerb für Projekte der Grundlagenforschung vergeben werden. Diese mit bis zu € 2,5 Mio. dotierten „Blue Sky Projects“ sollen das Potenzial haben, die jeweiligen Forschungsfelder über die Grenzen des heutigen Wissens hinaus zu transformieren. Umgelegt auf die Anzahl der Universitäten ist Israel das erfolgreichste Teilnehmerland dieses Programms, was maßgeblich den Preisen für das Weizmann Institute zu verdanken ist.
Wieder eine Gemeinsamkeit zwischen Gugging und Rehovot – und gleichzeitig ein Beleg für die konsequente Orientierung an den Maßstäben der Exzellenz: Umgelegt auf die Größe der Einrichtung ist das IST Austria das bislang erfolgreichste Einzelinstitut des Programms. 32 von 50 ProfessorInnen werden vom ERC finanziert. Ebenso prägnant ist die Erfolgsrate. Werden 30 Prozent der Anträge von Oxford, Cambridge und der ETH Zürich sowie 35 Prozent des Weizmann Institute mit einem ERC-Preis ausgezeichnet, sind es am IST Austria 50 Prozent.
Modellhaft ist das Weizmann Institute im Bereich der Spendenakquisition. Längst fließen die Mittel aus aller Welt nicht unmittelbar in den Forschungsbetrieb sondern in eine Stiftungnach US-amerikanischem Vorbild; die Erträge dieses endowment sichern die Unabhängigkeit des Weizmann Instituts. Das IST Austria hat aufbauend auf dieses Vorbild ebenfalls eine Stiftung eingerichtet, in der Spenden langfristig angelegt werden.
Und auch hier lässt sich ein Beispiel für die enge Kooperation von Gugging und Rechovot ableiten. Denn Gasper Tkačik and Elad Schneidman besprechen gerade via Skype, wie sie ihren gemeinsamen Vortrag bei einem Fundraising Dinner in Wien Mitte Oktober gestalten werden. Die beiden Institute wollen potenzielle SpenderInnen für eine Unterstützung gemeinsamer Projekte gewinnen. Tkačik und Schneidman repräsentieren durch ihre Forschung diese Zusammenarbeit: zwischen dem IST Austria und dem Weizmann Institute – zwischen Österreich und Israel.
Seit David Kohn Schiffsladungen im Hafen von Haifa gelöscht hat, ist viel Zeit vergangen.
Oliver Lehmann schreibt über Forschung, arbeitet am IST Austria und organisiert den Wiener Ball der Wissenschaften. www.oliverlehmann.at