Interview mit Péter Esterházy anlässlich seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1999 mit Ungarn als Gastland in profil Ausgabe 42, vom 11. Oktober 1999, geführt von Oliver Lehmann.
profil: Zitat Péter Esterházy: „Die neue ungarische Literatur befaßt sich nicht mit Nation und Volk, sondern mit Subjekt und Prädikat.“ Ausgerechnet Sie wollen mit der Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse die ungarische Nation und ihre Literatur repräsentieren?
Esterházy: Ich repräsentiere niemanden. Schon allein vor dem Wort habe ich Angst. Wenn der Anlaß eine Landwirtschaftsmesse wäre, würde ich auch nicht die anderen Bauern repräsentieren wollen. Irgendjemand muß eben die Rede halten.
Sie opfern sich?
Esterházy: Das ist zuviel gesagt. Es ist eine Arbeit, die gemacht werden muß. Warum ich? Weil ich einer von denjenigen bin, der diese Arbeit verrichten kann.
So bescheiden kenne ich Sie gar nicht.
Esterházy: Das ist nicht Bescheidenheit. Es ist aber auch nicht das Gegenteil.
Sie sind neben Péter Nádas der bekannteste ungarische Schriftsteller. Ob es Ihnen nun paßt oder nicht: Sie sind der Repräsentant der ungarischen Literatur.
Esterházy: Mag sein. Aber es interessiert mich nicht. Nicht weil ich bescheiden wäre, sondern weil mich die Arbeit am Schreibtisch vor derart große Probleme stellt, daß ich ausschließlich damit befaßt bin. Wenn mich die Arbeit auffrißt, wird es völlig uninteressant, ob ich repräsentativ bin. Aber ich will keinen falschen Eindruck erwecken: Ich fühle mich tatsächlich am Schreibtisch am wohlsten.
Sie werden aber der Erwartung nach Repräsentation in Frankfurt nicht entkommen: Ungarn ist – zehn Jahre nach ’89 – der erste Reformstaat als Schwerpunktland auf der Buchmesse.
Esterházy: In Ungarn glauben tatsächlich viele, wir müßten nun unser wahres Gesicht zeigen. Was soll das sein? Kein Land hat ein einziges Gesicht. Wir haben viele Gesichter.
Sie paraphrasieren Péter Nádas. Der meinte unlängst, die ungarische Literatur zeichne sich durch ihre Vielfältigkeit aus.
Esterházy: Wir haben letzte Woche miteinander telefoniert. Und ich sag zu ihm: „Ich habe noch nie darüber nachgedacht, was die ungarische Literatur charakterisiert. Jetzt kommen alle diese Journalisten zu mir und wollen genau das von mir wissen. Hast Du schon ein Antwort?“ Sagt er: „Ja, aber ich werde sie Dir nicht sagen, weil Du sie mir sonst klaust.“ Was ich natürlich getan hätte.
Daß eine Literatur vielfältig sei, läßt sich über jede sagen. Was aber an der ungarischen Literatur auffällt, ist ihr gebrochenes Verhältnis zur Realität.
Esterházy: Zum einen gibt es in Ungarn eine Tradition, daß Literatur mehr als Literatur sein und gesellschaftliche Aufgaben erfüllen soll. Meistens werden diese Erwartungen nicht aus Dummheit geweckt, sondern weil das Land in Not ist und der Schriftsteller stellvertretend für Politiker oder Historiker agieren soll. In diesen Fällen wird eine ernsthafte Beziehung zur Geschichte und zur Realität deutlich, was mir zum Teil den kalten Schauer über den Rücken jagt, weil es nur ein kleiner Schritt von der Ernsthaftigkeit zur Wichtigtuerei ist. Andererseits gibt es in den letzten paar Jahren die Tendenz zur einfach gut geschriebenen Geschichte. Ich habe nichts gegen gut geschriebene Geschichten, nur Neid. Aber nur eine Geschichte zu erzählen, das ist zu wenig, das kann auch ein sehr guter Film. Ich würde meinen, daß die meisten ungarischen Autoren sich Gedanken über die speziellen Möglichkeiten eines Textes Gedanken machen, über seine Form. Das ist natürlich eine Reaktion auf die Forderung nach Ernsthaftigkeit, wie sie noch in den 80-er Jahren an uns gestellt wurde. Die neue ungarische Literatur hat sich diesen moralischen Aufgaben verweigert. Der einleitend zitierte Satz ist eine Trivialität: Er hält fest, daß sich ein Schriftstellern mit Wörtern beschäftigt.
Aber er war damals, 1983, offenbar notwendig.
Esterházy: Der Satz wird mir noch heute als unpatriotisch vorgehalten. Lächerlich! Als ich in den 70-er Jahren begonnen habe zu schreiben, war die Haltung noch eine andere: Es war keine Sünde, einen schlechten Satz zu schreiben. Ein Buch mußte nicht unbedingt gut, es mußte wichtig sein. Aber wir, die jungen Autoren, wollten uns von der Gesellschaft keine Aufgaben auferlegen lassen. Nur: In einer Diktatur ist es nicht so einfach, etwas nicht zu wollen. Unsere Bücher haben diese Aufgabe dann doch erfüllt, und zwar deswegen, weil man in einer Diktatur nicht unpolitisch sein kann.
1989 stellt für Ungarn nicht jene Zäsur da wie für die CSSR oder die DDR; die Diktatur war hier um einiges milder. Deswegen verwundert es, daß es in Ungarn nicht jene institutionalisierte Aufarbeitung gibt, wie in Deutschland mit der Gauck-Behörde. Liefert die ausbleibende Aufarbeitung die Grundlage für eine gesellschaftliche Lebenslüge?
Esterházy: Es ist skandalös, daß es hier keine ordentliche Aufarbeitung gibt. Aber es ist insofern folgerichtig, als 89 nur einen, wenn auch wichtigen Abschnitt eines gleitenden Übergangs darstellt. Es gibt keinen gesellschaftlichen Willen, die Wahrheit zu erfahren. Das ist verständlich, weil die Ergebnisse sehr peinlich wären: Die Kollaboration mit dem System trug sehr kleinkarierte Züge. Es ging nicht um Leben oder Tod, sondern um Trabi oder Nicht-Trabi, um Auslandsurlaub oder Balaton. Um sich damit zu konfrontieren, braucht es Willen und Energie, die aber keine gesellschaftliche Kraft aufbringt oder aufbringen will. Nach 56 hat jeder seinen Kompromiß gemacht. Nicht im selben Ausmaß, aber doch. Heute stellt sich heraus: Es gab nur Reformkommunisten, die beinahe Sozialdemokraten und nur deswegen in der Partei waren, um sie von innen auszuhöhlen. Wer hat dann das Sytem aufrecht erhalten? Kádár und seine Frau, sonst niemand? Daß das bis heute funktioniert, wundert mich.
Mich nicht. Gerade in der zeitlichen Distanz nimmt diese Haltung zu, wenn ich an Österreich denke.
Esterházy: Gut. Es sind jetzt zehn Jahre vergangen. Verglichen mit Westeuropa halten wir jetzt beim Jahr 1955. Die eigentliche intensive Aufarbeitung setzte erst rund zehn Jahre später ein. Es kann gut sein, daß die Kinder in zehn Jahren fragen werden: Was hast Du damals gemacht, Vater?
Wäre diese Aufarbeitung nicht eine Rolle für die Literatur?
Esterházy: Natürlich hat 1989 die Schriftsteller beschäftigt. Es entstand ein leises Gespräch darüber, welche neue Sprache für die neue Zeit adäquat wäre. Gleichzeitig waren aber die Schriftsteller damit beschäftigt, daß sich die reale Situation der Literatur sehr rasch änderte: Plötzlich bekam sie ihren wohlverdienten Platz in der Gesellschaft – und verlor damit an Bedeutung. Das ging sehr schnell: 1991 war es noch wichtig, einen Artikel zu einer aktuellen Frage zu veröffentlichen, heute ist es absolut irrelevant. 1989 war alles noch klar: Wir haben demonstriert, sind marschiert, haben gefordert. Jetzt gibt es diese jungen Menschen mit Krawatte und Handys, das überfordert viele Menschen über 50. Sie haben sich – egal ob Gegner oder Unterstützer des Systems – in ihrer Welt ausgekannt. Es stellt sich heraus, daß die Menschen die Demokratie nicht genießen. Sie ist auch kein Genußmittel, sie ist bitter. Das wesentliche Mißverständnis besteht darin, daß Freiheit mit Glück gleichgesetzt wird. Sind wir glücklicher, seitdem die Russen weg sind? Aber nein! Mal so, mal so.
In keiner anderen Literatur wird die Sprache an sich so thematisiert wie in der ungarischen, gibt es soviele Anspielungen auf den Übersetzer. Ist das eine kreative Auseinandersetzung oder Ausdruck des Selbstmitleids?
Esterházy: Es ist ähnlich wie mit der Repräsentation: Ich habe keine Lust oder Energie mich darum zu kümmern, deswegen bekümmert zu sein. Beim Verfassen eines literarischen Textes darf man nie an die Übersetzung denken, das ist beschämend und erniedrigend. Das ist Großschriftstellerei. Ich denke nie darüber nach, was durch eine Übersetzung verloren gehen könnte. Ich freue mich darüber, daß ich einen Leser in Spanien habe. Das ist märchenhaft. Der Leser ist mir immer fremd, aber wenn er mir so fremd ist, beeinflußt mich das ein wenig. Es hat natürlich Folgen in einer so erratischen Sprache zu schreiben: Wenn mir ein Holländer sagt, er könne nur englisch, kann ich mich mit ihm doch irgendwie auf deutsch verständigen. Aber mit einem Ungarn, der nur ungarisch spricht, gibt es keine Verständigung, unter keinen Umständen. Das prägt die Bewegungen, die Gefühle.
Ich will bestreiten, daß Ihnen der Leser ein Fremder ist. Der ideale Leser ungarischer Literatur sollte alle Werke, auch die unveröffentlichten, gelesen haben, die Literaturgeschichte seit dem Barock und am besten den derzeit aktuellen Tratsch in Budapest kennen.
Esterházy: Das ist ziemlich bös, und ziemlich wahr. Während der Diktatur gab es tatsächlich eine absolut freundschaftliche Beziehung: Der Leser war wie der Schriftsteller ein Verlierer. Dieses Idyll halte ich zwar für falsch, aber daß das Lesen ein Akt der Freundschaft ist, klingt vielleicht ein bißchen blauäugig, ist mir aber nicht fremd.
Hingegen: Österreichische Schriftsteller schreiben gegen Feinde an. Bernhard gegen eine katholische, parvenuhafte, demi-proletarische Geisteshaltung, Menasse gegen die Sozialpartnerschaft, Jelinek gegen das Patriarchat …
Esterházy: Das wird in Ungarn noch kommen. Möglicherweise als Folge der nicht vollzogenen Aufarbeitung.
Sie haben einmal Strafgelder für die leichtfertige Verwendung des Wortes „Europa“ gefordert. Wieviel werden Sie in Frankfurt zahlen?
Esterházy: Keinen Filler. Die Buchmesse bedeutet, daß Ungarn im Verhältnis zu Europa an exotischem Charme verliert. Und das ist gut. Es ist die Wiederkehr der Normalität.
Zur Person:
Péter Esterházy, 50, gilt neben Péter Nádas („Buch der Erinnerung“) als bedeutendster ungarischer Schriftsteller der Gegenwart. Sein 1979 erschienener „Produktionsroman“ war neben Nádas’ „Ende eines Familienromans“ ein Wendepunkt in der ungarischen Literatur: Die jungen Schriftsteller emanzipierten sich von dem gesellschaftlicher Funktion halboffizieller Dissidenz. Spätere Werke wie „Kleine ungarische Pornographie“ und „Einführung in die Belletristik“ akzentuierten den radikalen Individualismus als Gegenposition zum Regime. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch die Aufsatzsammlung „Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors“. Esterházy hält neben dem Staatspräsidenten und Schriftsteller Árpád Göncz am 12. Oktober die Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse.
„Oase in der europäischen Wüste“
Als „Wiederkehr der Normalität“ charakterisiert Péter Esterházy untertreibend im profil-Interview den Auftritt Ungarns bei der Frankfurter Buchmesse. Doch so normal ist diese Wiederkehr nicht, was ein wenig mit seiner Geschichte und viel mit der in Europa nur dem Finnischen entfernt verwandten Sprache zu tun hat. Die Einsamkeit ist ein konsequent wiederkehrendes Thema der Literatur. Teils als plattes Lamento, teils aber auch aus tief empfundener Verzweiflung. Für Sándor Márai – sein Werk ist eine überfällige Entdeckung anläßlich der Buchmesse – war die Einsamkeit kein bloßes Charakteristikum Ungarns, sondern ein Äquvivalent. Im kalifornischen Exil schrieb er: „Die Einsamkeit war ein Quell der Stärke, eine Oase in der europäischen Wüste.“
Einer Reihe von Autoren der Zwischenkriegszeit – wie dem Lyriker Attila Jószef – gebührt Weltruhm, wären deren Werke adäquat übersetzt worden. Durch dem Holocaust verödete auch in Ungarn die literarische Szene. Nach dem Aufstand von 1956 übernahmen viele Autoren halböffentliche dissidente Funktionen – nicht immer zum Vorteil der Literatur. Erst Esterházy und Péter Nádas setzten in den späten siebziger Jahren die großen Traditionen der Zwischenkriegszeit rund um die Literaturzeitschrift „Nyugat“ (Westen) fort. Neben diesen beiden reinterpretieren Autoren wie László Krasznohorkai, Desző Tandori oder János Háy die Einsamkeit als Anspruch auf die individuelle Existenz im Gegensatz zum Totalitarismus, oft gebrochen mit den Mitteln der Ironie. Die ganz junge Generation ächzt ein wenig unter den Übervätern, oft verehrend, bisweilen verarschend: Pál Ficsku, Zsuzsa Forgács oder Ester Babarczy begleiten die neuen Zeiten seit 1989 mit wacher Skepsis.
Der Auftritt Ungarns in Frankfurt – Motto „Ungarn unbegrenzt“ – ist keineswegs unumstritten. In einer parlamentarischen Anfrage verglich ein Abgeordneter der rechtsextremen „Partei der Wahrheit und des Lebens“ die von Kurator György Dalos vorgenommene Auswahl von Autoren mit der Bücherverbrennung der Nazis.