16|04|27: Wo die Wiener Mammuts grasten

Rede anläßlich der Buchpräsentation von „Wo die Wiener Mammuts grasten“ von Thomas Hoffmann und Matthias Harzhauser im Naturhistorischen Museum Wien am  27.4.2016

Guten Abend, meine Damen und Herren!

Dies ist eines jener Bücher, das ich besonders ungern vorstelle. Und zwar, weil ich es selber gerne geschrieben hätte. Ich will Ihnen erklären, warum:

Erstens: Dieses Buch ermöglicht Abenteuer vor der Haustüre. Wie viele von Ihnen wissen, war ich ein paar Jahre lang Chefredakteur des „Universum Magazins“. Als solcher musste ich mir bei der Gründung im Jahr 1998 überlegen, wie wir gegen so wunderbar und üppig gestaltete Magazine wie „Geo“ oder „National Geographic“ bestehen können, auch weil sich unser Blattlinie kaum von deren Themen unterschied, das Redaktionsbudget hingegen schon sehr. Das Programm lautete: „Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften“. Der Unterschied war aber dieser Nachsatz: „Möglichst mit Österreich-Bezug“. Sehr früh hatten wir nämlich in der Redaktion die Erfahrung gemacht, dass Geschichten in diesem regionalen Kontext mehr Reaktionen auslösten als Artikel über die üblichen exotischen Weltgegenden. Der Ngorongoro-Krater in Tansania hatte keine Chance gegen den Neusiedler See, die Geysire im Yellowstone National Park waren lauwarm verglichen mit der Thermenlinie, die Schneeleoparden im Tien-Shan-Gebirge wurden verjagt von den Schakalen im südsteirischen Hügelland, und die Bartenwale vor Namibia soffen ab gegen die Bartgeier in den Hohen Tauern.

Besonders deutlich wurde dieses Verhalten unserer Leserinnen und Leser bei Geschichten aus der Großstadt: Die Entdeckungen vor der Wiener Haustür boten die mit Abstand beliebtesten Exkursionen. Da wurden G’stätten als Ruderalflächen wissenschaftlich geadelt (aber auch als Sondermülldeponien decouvriert; ich erinnere mich an eine Böschung in der Sensengasse, auf der Laborreste mit erstaunlichen Folgen für Flora und Fauna ziemlich lässig entsorgt worden waren). Da wurde das Umspannwerk Südost in Unterlaa als megalomaner Zieselbau erkannt, acht Fledermausarten bei einer Biotopkartierung im Prater verzeichnet, und eine Wildsaujagd im Lainzer Tiergarten dokumentiert: „Wo sonst im Frühjahr Kinder unter der Aufsicht ihrer properen Volksschullehrerinnen beim Wandertag fröhlich über den Spielplatz am Hirschgstemm tollen, liegen an diesem Spätwinter-Nachmittag die dampfenden Leiber der eben erlegten Wildschweine, aus deren aufgebrochenen Bäuchen das Blut über die vereiste Wiese an den Rutschen und Klettergerüsten vorbei rinnt.“

Hofmann und Harzhauser halten sich strikt an diese Richtlinie des Abenteuers vor der Haustür – zum Beispiel, wenn sie den westlichen Rand des flachen Sarmat-Meeres, das sich vor 12 Millionen Jahren bis ins heutige Turkmenistan erstreckte, so verorten: „Die Geländekante der Jaschkagasse in Wien-Mauer entspricht tatsächlich der Strandlinie dieses riesigen Binnensees.“ (S. 30). Der Beitrag der Autoren beschränkt sich dabei übrigens nicht nur auf die Geologie, sondern schwappt auch hinein in die Linguistik. In diesem Sarmat-Meer findet sich nämlich der Oolith, der Eierstein, der aus kleinen Kalkkügelchen besteht, deren Namen sich von dem griechischen Wort für Ei ableiten: „Ooide“. Unsauber ausgesprochen wird daraus die gängige Anrede für weibliche „Kråcher“, einem spezifisch Wienerischen Element tribaler Jugendkultur im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.

Zweitens: Dieses Buch dokumentiert eine Ungeheuerlichkeit – zumindest nach Wiener Maßstäben. Nämlich die Veränderung. Am besten tut das Buch das, wenn es um den Untergrund geht, darüber wird noch zu sprechen sein.

Hofmann und Harzhauser rufen uns durch ihre wissenschaftsgeschichtlichen Ausführungen zur geologischen Erforschung des Wiener Beckens im 19. Jahrhundert in Erinnerung, welch drastischen Veränderungen dieses Wiener Beckens in der Vorgeschichte ausgesetzt war: Die unterste Schicht – die maritime Stufe – wurde nach oben Richtung Wienerwald verfrachtet, während die einst oberste Schicht – die Congerienstufe – immer weiter abrutschte und heute das Fundament des Stadtzentrums bildet.

Und die einem Volk von Riesen zugedachten Mammutknochen, wie sie beim Bau des Stephansdoms gefunden wurden, machen deutlich, wie sich die Stadtwahrnehmung ändert, welchen zeitgebundenen Kenntnissen und Unkenntnissen sie unterworfen ist.

Das Buch konfrontiert damit die Leserinnen und Leser, unter denen sich zwangsläufig viele Wienerinnen und Wiener befinden, mit dem Affront, dass Wien nicht immer so war, wie sich die Stadt uns heute darstellt. Zwar haben sich die Wienerinnen und Wiener damit abgefunden, dass sie sterblich sind – und daraus einen Kult der Todesverehrung gemacht. Aber quasi die Gegenleistung für den Skandal der Sterblichkeit, den jene als besonders schmerzlich empfinden, die zu Lebzeiten nichts zu Wege gebracht haben, ist die allgemeine und gegenseitige Bestätigung, dass Wien schon immer so war, immer so ist, nie anders sein wird – ich erspare Ihnen die Belege aus der Literatur.

Das führt dazu, dass jede Art der Veränderung eine Camouflage am besten in Form einer Legitimation durch die Vergangenheit benötigt, will die Veränderung nicht von vornherein scheitern. Wie in einem gezinkten Kartenspiel übertrumpft die Tradition die Gegenwart, sticht das Phlegma die Zukunft. Die Akteurinnen und Akteure Wiens – ihre Eliten sowie ihre Bewohnerinnen und Bewohner – bewegen sich damit in einem vormodernen Geschichtsverständnis, in dem überkommende Prozesse, Abläufe und Privilegien nicht sukzessive abgeschafft oder wenigstens adaptiert werden, sondern als letztlich inhaltsleere Form Bestand haben. Ein anderer Ausdruck dafür ist Zeremoniell. Der 1. Mai vor dem Rathaus, die Militärschau am Nationalfeiertag auf dem Heldenplatz oder die Punsch-geschwängerten Adventmärkte wie zwischen kunsthistorischem und naturhistorischen Museum sind ausgezeichnete Beispiele für derart sinnbefreite Kollektivunternehmungen.

Welche Konsequenzen ein derartiges Zeremoniell hat, lässt sich der Schilderung der britischen Historikerin Mary Beard entnehmen, und zwar wie sich die republikanische Realverfassung des antiken Roms als Konglomerat aus überkommenen Regelungen, Gesetzen und Vorschriften zusammensetzte. Der Preis dafür, dass das Gemeinwesen sich an dieser Unmenge an Vorgaben nicht selbst verstrickte und damit endgültig lähmte, war die unausgesprochene Übereinkunft, diese Regeln jeweils nur nach Bedarf anzuwenden, was letztlich in eine Art von permanenter Heuchelei im Verhältnis zu den Institutionen mündete.

Diese Veränderungsscheu ist gerade an den kurzen Phasen der Modernisierung erkennbar: Das Rote Wien zum Beispiel mag sich zwar der Moderne verpflichtet gefühlt haben und mit der Verschränkung von evidenzbasierter Politik mit naturwissenschaftlicher Objektivität und geisteswissenschaftlicher Exzellenz – Stichwort „Wiener Kreis“ – seiner Zeit weit voraus gewesen sein. Aber in ihrer Selbstdarstellung erlag die sozialdemokratische Stadtverwaltung der Neigung zur bürgerlichen Mimikry und rühmte ihre Gemeindebauten am Gürtel als „Ringstraße des Proletariats“ und die Großbauten wie den Karl-Marx-Hof als „Versailles der Arbeiter“.

Diese Veränderungsunwilligkeit mag vordergründig eh pittoresk erscheinen und touristisch gut vermarktbar sein, hat aber grauenhafte Konsequenzen, weil damit von den Eliten ein Versprechen der Unveränderbarkeit abgegeben wird, dass sich nicht einhalten lässt, nie einhalten ließ und in einer global vernetzten Welt geradewegs absurd ist. Die aus dem Bruch des Versprechens stammende Frustration resultiert in einer Vertiefung der Verunsicherung. Die Reaktion darauf ist die eilige Versicherung der Eliten, dass sich nun aber wirklich nichts mehr ändern werde, was sich wieder nicht einhalten lässt. Die Abwärtsspirale hat sich hier längst zu drehen begonnen – und fräst sich fest wie eine Schraube im harten Brettl vorm Kopf, wie es in einer Kabarettrevue von Bronner, Kehlmann, Merz und Qualtinger hieß.

Die aus der Unwilligkeit resultierende Unfähigkeit mit letztlich unvermeidbaren Veränderungen umzugehen hat eine besonders paradoxe Konsequenz. Während die Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen der halbherzigen Modernisierung und der besinnungslosen Bewahrung anhand von Symbolen wie dem Canaletto-Blick ausgetragen werden, fallen oft genau jene Stadtbestandteile einer unbedachten, ja schlampigen Zerstörung zum Opfer, die die Virilität und Vieldeutigkeit von Metropolen – also ihre Veränderungsfähigkeit – am besten dokumentieren. Ich rede vom Haschahof in Rothneusiedl, wo aus einem Landgut über die Jahre ein urbanes Selbst-Ernteprojekt entstand, dass unheimlich, still und leise verbaut werden sollte, hätten nicht ein paar obstinate Stadtbenutzerinnen und –benutzer dagegen die Öffentlichkeit mobilisiert. Ich rede von der autonom angelegten Skater-Bahn auf dem Gelände des Nordbahnhofs, die nun Wohnbauten ohne Umweltverträglichkeitsprüfung Platz machen soll.

Verzeihen Sie mir den Exkurs, aber genau diese permanente Veränderung und Veränderbarkeit von einer Stadt als Wesen ihrer Urbanität machen Hofmann und Harzhauser mit ihren Zeitreisen deutlich.

Drittens: Dieses Buch enthält Erkenntnisse, die mich in Form von Mutmaßungen immer wieder beschäftigt haben, aber die ich nun erstmals tatsächlich bestätigt bekommen habe. Natürlich wissen wir alle seit Sigmund Freud, dass sich im Untergrund der Wiener Seele sehr dunkle Ecken verbergen. Schließlich hat Freud in den Zuständen seiner Wiener Patientinnen und Patienten erst jenes Material gefunden, das ihn zu seinen Thesen anregte.

Den meisten von Ihnen wird der Gedenkstein auf dem Gelände des ehemaligen Hotels Bellevue oberhalb von Grinzing bekannt sein, auf dem zu lesen ist: „Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes.“ Es wäre nicht Freud, wenn es sich bei diesem Zitat nicht um eine ironisch aufgeladene Doppeldeutigkeit handeln würde. Denn tatsächlich stammt der Satz aus einem ziemlich resignativen Brief Freuds an seinen Berliner Kollegen Wilhelm Fleiss. Das vollständige Zitat lautet: „Glaubst Du eigentlich, dass an dem Hause dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird?: ‚Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes.’ Die Aussichten sind bis jetzt hierfür gering.“ Die Rache Wiens an Freud: Die Marmortafel gibt es wohl, aber das Gebäude des Hotels Bellevue wurde nach dem Zweiten Weltkrieg abgebrochen.

Diesen Gedenkstein werden Sie also kennen. Aber nur wenigen von Ihnen wird bewusst sein, dass sich von der Stele durch eine Lücke in der Hecke eine gerade Sichtlinie zur Müllverbrennungsanlage Spittelau ziehen lässt. Sozusagen schnurstracks von der Verdrängung zur Verbrennung.

Die Beziehung von Freud zur Abgründigkeit war mir also immer auf derart essayistische Weise klar, aber die Verbindung von Geist zu Materie nie eindeutig genug bewiesen. Die endgültige Bestätigung habe ich nun in diesem Buch gefunden, und zwar auf Seite 86. Dort heißt es in dem Kapitel über Wiens Geologie: „Dennoch ist Wien unterirdisch schwer gestört.“

Dafür danke ich den Autoren.

 

Beard M. (2015), „SPQR. A History of Ancient Rome“, London, Profile Books.

Harzhauser M., Hofmann P. (2016), „Wo die Wiener Mammuts grasten. Naturwissenschaftliche Erkundungsreisen durch das heutige Wien“, Wien, Metro Verlag