Am 15. Mai 2013 wurde Friedrich Zawrel von Unterrichtsministerin Claudia Schmied mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik ausgezeichnet. 2001 habe ich auf Anregung von Hubertus Czernin gemeinsam mit Traudl Schmidt ein Buch über Zawrel und seinen Peiniger geschrieben. Heinrich Gross agierte als Psychiater im Zentrum der NS-Medizinverbrechen an der Wiener Anstalt „Am Spiegelgrund“, in der zwischen 1940 und 1945 rund 7.500 Menschen ermordet worden, darunter 800 Kinder und Jugendliche; danach setzte Gross ohne große Schwierigkeiten seine Karriere in der 2. Republik fort. Zawrels Verdienst besteht darin, maßgeblich zur Aufklärung dieses Skandals beigetragen und durch seine Vorträge an Schulen in ganz Österreich in den letzten Jahren Schülerinnen und Schüler seine und Gross‘ Geschichte erzählt zu haben. Damit vermittelt Zawrel den Jugendlichen, wie gefährdet die Würde in allen Zeiten ist und wie behäbig totalitäre Denkweisen in Demokratien wirken – und Zawrel vermittelte ihnen, wie er sich durch Selbststudium, Disziplin und Unverdrossenheit aus den Fängen des Dr. Gross gelöst hat. Zawrel erzählt das auf seine bemerkenswert ruhige und konzentrierte Weise, die keinen Haß aufkommen lässt, sondern Nachdenklichkeit und Bedachtsamkeit fördert. Zawrel hat sich diese Auszeichnung durch die Republik verdient.
Der folgende Text ist das erste Kapitel des Buchs („In den Fängen des Dr. Gross. Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel“, Czernin Verlag, 212 Seiten, € 18,-). Das Foto ist Cremers Photoblog zur Verleihung entnommen.
Die Wiederbegegnung
26. November 1975. Der schwere Schlüssel fährt in das Schloss, die Tür öffnet sich knarrend: „Untersuchungshäftling Zawrel, Friedrich. Mitkommen.“ Den zum Innenhof vergitterten Gang entlang. Durch die Oberlichter fallen Sonnenstrahlen, die im Maschendraht rautenförmige Schatten werfen. An den Nachbarzellen vorbei.
„Was ist los?“ – „Frag nicht. Wirst schon sehen.“
Durch zwei schwere Gittertüren hindurch, die Wendeltreppe hinab in das Besuchszimmer.
Der Mann sitzt mit dem Rücken zur Tür, er blättert in den Akten. Er schaut nicht auf, als Zawrel von dem Justizwachebeamten in das Zimmer gebracht wird, die Hand am Ellbogen des Häftlings:
„Grüß Sie, setzen Sie sich. Mein Name ist Primar Dr. Gross, Primar Dr. Heinrich Gross. Ich bin der gerichtlich bestellte psychiatrische Sachverständige. Setzen Sie sich. Als dann, fangen wir an. Herr Zawrel, wann sind Sie geboren?“ – „Am 7. November 1929“
„Sie sind in Lyon geboren. Wie kommen Sie dort hin?“ – „Meine Mutter hat dort in einer Seidenspinnerei gearbeitet“
„Mit den Franzosen haben Sie sonst nichts zu tun?“ – „Nein.“
„Sie sind österreichischer Staatsbürger?“ – „Ja.“ (…)
„War die Mutter verheiratet?“ – „Nein, die war ledig.“
„Wissen Sie, wer der Vater war?“ – „Mein Vater hat meine Mutter erst im Jahre 1938 geheiratet.“ (…)
„War der Vater ein Österreicher?“ – „Ja.“
„Was war denn der von Beruf?“ – „Schlosser.“
„Lebt der Vater noch?“ – „Nein, der ist 1970 gestorben.“
„Woran?“ – „Krebs.“
„Die Mutter lebt noch?“ – „Ja, meine Mutter ist 1910 geboren.“
„Haben Sie zuletzt Verbindung gehabt mir ihr?“ – „Ja, heute war sie wieder auf Besuch.“
„Haben die Eltern bis zuletzt miteinander gelebt?“ – „Nein, die letzten Jahre nicht mehr. Mein Vater war ein schwerer Alkoholiker.“
„Ab wann hat sich seine Trunksucht bemerkbar gemacht?“ – „Seit seinem 18. Lebensjahr. Seit seine Mutter gestorben ist, hat er getrunken.“
„War der Vater auch in einer Anstalt?“ – „Ja, er war schon am Steinhof und auch auf Entwöhnungskuren.“
„Bitte Herr Zawrel, wenn Sie ein bisserl lauter sprechen!“ – „“Diese Kuren haben nie etwas genutzt.“
„Hat dadurch das Familienleben gelitten?“ – “ Schauen Sie, Herr Doktor, das Familienleben…“
„Sie meinen, Sie haben nie eines gehabt?“ – „Wenn ich es Ihnen kurz sagen darf…“
„Sie können alles reden, Herr Zawrel, aber ich möchte eine gewissen Reihenfolge einhalten. Wurde also die Familie durch die Trunksucht noch zusätzlich gestört?“ – „Sicherlich sogar. (…) Ich war von 1935 bis 1939 bei Pflegeeltern. Meine Mutter ist damals delogiert worden, weil sie nicht einmal die vier Schilling Zins gehabt hat und dadurch bin ich zu Pflegeeltern gekommen. Dort ist es mir nicht gut gegangen. Die haben mich oft bis neun Uhr abends arbeiten lassen. Im Jahre 1939 bin ich in die Heime gekommen und war dort bis 1942. Ich bin einige Male davon gerannt. (…) Dann bin ich am Steinhof gekommen und dort war ich vom Jahr 1942 bis 1943. Vielleicht kennen Sie den Herrn Primarius Illing? Da war ich am Pavillon 17 und dort war ich in einer Zelle drinnen wie das hier. Fast ein Jahr lang war ich dort. Am Pavillon 15, da kann ich mich auch noch erinnern, da war so ein Raum wie ein Hörsaal. Und da habe ich mich immer ganz ausziehen müssen und da sind immer so junge Schwestern gewesen. Da habe ich mich immer auf so ein Podest stellen müssen. Und da hat der Dr. Illing immer an mir etwas erklärt. Und ich habe dort völlig nackt stehen müssen. Immer wenn ich rausgegangen bin, hat er mir so einen kleinen Klaps mit dem Zeigestab gegeben und da haben die hinten gelacht. Das werde ich nie vergessen. (…)
Und dann ist eine Schwester gekommen, die Schwester Rosa, und hat mir gesagt: ‚Am besten ist für Dich, Du rennst.‘ Sie hat mir die Pavillontüre aufgesperrt und ich bin davon gerannt. Daraus resultiert meine erste Vorstrafe. Ich habe die Verhandlung gehabt beim Dr. Mitlatz. Und dieser Doktor hat ein Gutachten abgelegt, also vorgelesen, welches damals der Herr Dr. Illing erstellt hat. Und dieses Gutachten liegt in meinem Vorstrafenakt aus dem Jahre 1944.“
„Das wird aber nicht mehr existieren!“ – „Oh ja, das gibt es noch (…). Dieser Primarius redet in dem Gutachten von erblich schwersten Belastungen. Und unter anderem hat der Richter damals gesagt, wie er das Gutachten gelesen hat, dass der Illing gesagt hat, ich werde immer wieder kriminell rückfällig werden.“(…)
„Waren Sie schon einmal beim Psychiater, abgesehen davon, was Sie mir erzählt haben.“ – „Für einen Akademiker haben Sie aber ein schlechtes Gedächtnis. Können Sie sich nicht erinnern, Herr Doktor?“
„An was soll ich mich erinnern können?“ – „Sie werden doch nicht den Spiegelgrund vergessen haben, den 15-er und den 17-er Pavillon. Und den Illing und die Türk und die Jockl und die Hübsch und den Krenek und den Jekelius.“
„Sie waren da oben?“ – „Na was glauben Sie, von wo wir uns kennen.“
***
Bis auf die Passage nach der letzten Auslassung (…) stammen alle Zitate aus dem gerichtspsychiatrischen Gutachten, dass Dr. Heinrich Gross am 27. November 1975 im Auftrag des Landesgerichts für Strafsachen Wien über Friedrich Zawrel erstellt. Zawrel ist des Einbruchs nach §§ 171 ff. StG. beschuldigt. Der Arzt Werner Vogt wird sechs Jahre später in einer Titelgeschichte des „profil“ seinen furiosen Text mit dem auf Zawrel bezogenen Satz einleiten: „Was er getan hat, steht in keinem Verhältnis zu dem, was ihm angetan wurde.“[1]
Von diesem Satz handelt dieses Buch. Es beschreibt die Biographien von Friedrich Zawrel und Heinrich Gross. Es schildert zwei Lebensläufe, wie sie in der 2. Republik durch die gesamtgesellschaftlich angestrengte Simulation von Realität und Verantwortung möglich wurden. Von dem eng an der Biographie des Opfers und des Täters orientierten Ablauf wird der Text sich erweitern und scheinbar weit abseits von dieser Geschichte gelegene Themenkreise wie Wissenschaftspolitik der frühen 60er Jahre, den Prozeß gegen die Wiener Aktionisten Ende der 60er Jahre, die ersten Lebenszzeichen einer Zivilgesellschaft Ende der 70er Jahre ausloten. Doch die Themen bedingen einander, auch wenn das auf den ersten Blick nicht kenntlich ist.
Wem Zawrel zu verdanken hat, dass er bis 1981 insgesamt 13 Jahre im Gefängnis verbringt, ist klar: Heinrich Gross. Wem Zawrel zu verdanken hat, dass er nach 1981 endlich Fuß fassen kann, ist auch klar: Seiner Hartnäckigkeit, seinem in Gefängnisjahren selbst erworbenem Wissen und dem Engagement von Werner Vogt. Wem Gross zu verdanken hat, dass er nach dem Krieg Karriere machen kann, darüber wird in diesem Buch zu berichten sein. Viele an dem Werdegang von Gross Beteiligte schweigen heute noch immer: Ärztekollegen, Juristen, SPÖ-Genossen.
Gross ist seit 1960 gerichtlich beeideter Sachverständiger für Neurologie und Psychiatrie.[2] Er ist der meist beschäftigte Gutachter des Landes; 1980 gibt er an 12.000 Gutachten erstellt zu haben[3] : Das sind 600 pro Jahr, also circa zwei pro Werktag. Diese Tätigkeit wird er bis 1998[4] ausüben. Heinrich Gross: „Ich war immer sehr fleißig und habe nie eine Freizeit gekannt.“[5] 1968 wird ihm die Leitung eines für ihn gegründeten Ludwig-Boltzmann-Instituts zur Erforschung der Mißbildungen des Nervensystems übertragen.[6] Ein Ehrenmann.
Am 5. November 1975, drei Wochen vor dem Gespräch mit Zawrel ist ihm „über Antrag des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung und Beschluß des Ministerrats vom 28. Oktober 1975 durch Entschließung des Herrn Bundespräsidenten“ das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse verliehen worden.[7] Nach dem protokollarischen Rang handelt es sich um die neunt höchste Auszeichnung, die die Republik vergibt.[8] Doch wird nicht nur ein verdienter Mediziner, sondern auch ein treuer Parteigenosse durch die sozialdemokratische Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg ausgezeichnet. 1951 war er dem Bund sozialistischer Akademiker (BSA)[9], 1953 der SPÖ beigetreten.[10]
Die letzte Passage des oben angeführten Dialogs entstammt der Erinnerung des Friedrich Zawrel. Der damals 46jährige gibt sich als ehemaliger Patient der „Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien Am Steinhof“, genauer, als Insasse der auf dem Steinhof-Gelände 1940 eingerichteten städtischen Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ zu erkennen.[11] Zawrel war dort auch von Heinrich Gross untersucht worden. Der Spiegelgrund ist eine der 37 Kinderfachabteilungen im Deutschen Reich, in denen „unwertes Leben“ vernichtet wird[12]; Schätzungen für den gesamten Machtbereich des Deutschen Reichs sprechen von 5.000 zwischen 1940 und 1945 getöteten Kindern[13]. Am Spiegelgrund sterben mindestens „772 Kinder, davon nach Angaben der beteiligten Ärzte 200 bis 250 mit Nachhilfe.“[14] Heinrich Gross ist vielfach an der Ermordung der Kinder beteiligt.[15] Der deutsche Medizinhistoriker Matthias Dahl kommt in seinem Buch „Endstation Spiegelgrund“ zu dem Schluß, dass „die Wiener Kinderfachabteilung zu den Anstalten mit den meisten Todesfällen innerhalb der Kinder-‚Euthanasie‘ gehörte.“[16] Zawrel kann dank der Hilfe einer Krankenschwester fliehen. Eine Verurteilung vor dem Jugendgerichtshof 1944 rettet ihn vor dem vorhersehbaren Schicksal in der Anstalt.
In der Begründung der Verleihung des Ehrenkreuzes ist nichts von Gross’ Tätigkeit am Spiegelgrund zu lesen. In dem ausführlichen Lebenslauf heißt es, Gross „begann seine Facharztausbildung an den psychiatrischen Krankenhäusern der Stadt Wien in Ybbs a.d. Donau und auf der Baumgartner Höhe, die er wohl durch seinen Dienst bei der Deutschen Wehrmacht unterbrechen mußte.“[17]
Auch von dem Wörtchen „wohl“ handelt dieses Buch.
„Wohl“ kann „gut“ bedeuten; „Wohlfahrt“, „wohl erzogen“ und „wohl erworben“ fallen einem ein, auch die Redewendung „auf Wohl und Wehe“. Alles ein wenig altmodische Begriffe. In diesem Kontext ist „wahrscheinlich“ gemeint. Wir stellen uns vor: Ein Beamter des Wissenschaftsministeriums, Abteilung I/7 verfaßt den Antragstext. Als Vorlage dient ihm eine Empfehlung der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft vor, die das geschäftsführende Mitglied der Gesellschaft, Dr. Josef Bandion veranlaßt hat. Der nachmalige, enorm mächtige Magistratsdirektor der Stadt Wien kennt Gross gut: Zum Beispiel aus dem Bund sozialistischer Akademiker – einer Vorfeldorganisation der SPÖ – und aus dessen Angestelltenverhältnis als Primar einer Klinik der Stadt Wien. Jedes Detail der Karriere des Dr. Gross wird in dem eine Seite langen Schriftstück erwähnt. Jeder Abschluß, jede Tätigkeit, jede Aktivität ist angeführt. Nur bei diesem einen Satz taucht eine Unschärfe auf: „wohl“. Hat der Beamte im Wissenschaftsministerium oder hat Bandion Gross gefragt? Haben sie etwas geahnt? War ihnen bewußt, dass dieser Satz die Wahrheit verschleiert? Stellen wir uns den Satz ohne das Wörtchen „wohl“ vor. Er hätte seine Gültigkeit. Er wäre sogar der Wahrheit näher; nicht viel, aber immerhin. So aber, in seiner tatsächlichen Form, ist der Satz eine formvollendete Lüge. Das „wohl“ steht dafür: „Wir wissen Bescheid, wir wissen es auch besser. Aber wir brauchen darüber nicht zu reden. Wir verstehen uns schon.“ Nichts wird verdrängt, aber alles verschwiegen.
Friedrich Zawrel beschreibt den Moment, in dem er Gross an die gemeinsame Vergangenheit erinnert: Der Arzt „wird weiß, wie der Plafond“, wie die Decke; ihm wird unwohl. Dann fragt er:
„Und Sie haben nie darüber gesprochen, Herr Zawrel?“ – „Nein, ich hab keinen Anlaß gehabt.“
„Gibt es noch andere von dort aus der Zeit, die Sie noch kennen?“ – „Ja, einige. Aber ich sage keine Namen. Ich weiß nicht, ob denen das recht ist.“
„Naja, das ist ja heute eine ganz andere Situation. Reden wir nicht mehr darüber. Ich bin froh, dass die Zeit vorbei ist. Und Sie sind froh, dass die Zeit vorbei ist. Schauen Sie, tun wir nicht in diesen alten Geschichten heumdoktoren, das liegt fast vierzig Jahre zurück. Wenn Sie über diese Zeit ruhig sind, kann ich Ihnen versprechen, dass ich mich für Sie bei Gericht einsetzen werde und Ihnen helfen werde.“
Zawrels Rechtsanwalt ist begeistert: „Da brauchen Sie mich ja gar nicht mehr. Wenn der Gross Ihnen hilft, gehen Sie sicher nach Hause.“
Am 25. Mai 1976 findet die Verhandlung statt. Heinrich Gross gibt sein Gutachten zu Protokoll.[18]. Ein Gutachten wie ein Urteil.
„Der Beschuldigte ist in klarer Bewußtseinslage und nach allen Richtungen orientiert. Er ist gut kontaktfähig, im Verhalten situativ einigermaßen angepaßt, affektiv wenig korrespondierend, doch genügend kooperativ. (…)
Verstandesmäßig ist der Beschuldigte ausreichend befähigt. Er zeigt genügend Kritikfähigkeit, eine nicht ungeschickte Argumentation. (…)
Das Verhalten des Beschuldigten bei der Exploration ist gekennzeichnet durch eine gewisse depressive Verstimmung, die dabei demonstrativ anmutet, durch eine mangelhafte Korrespondenz, durch einen beschleunigten und weitschweifigen Gedankenablauf. Grobe psychopathologische Phänomene können aber nicht nachgewiesen werden.
Bei der psychologischen Persönlichkeitsuntersuchung findet sich allerdings eine primitive, weiche psychopathische Persönlichkeitsstruktur mit gehemmten Aggressionspotentialen und Konflikten mit dem Milieu. (…)
Nach den vorliegenden Unterlagen (es liegt ein jugendpsychiatrisches Gutachten vom 12.1.1944 in der Krankheitsgeschichte befindlich vor) entstammt der Beschuldigte außerordentlich ungünstigen familiären Verhältnissen. (…) Von den Geschwistern wurden verschiedene in Erziehungsanstalten wegen Verhaltensstörungen untergebracht.
Der Beschuldigte bereitete schon als Kind erhebliche Verhaltensstörungen und kam wegen Eigentumsdelikten in Heimerziehung. In den Heimen verhielt er sich teils angepaßt, teils kam es zu groben Verhaltensstörungen (Lügnereien, homosexuelle Handlungen etc.).
Sein besonderes Geltungsbedürfnis wird hervorgehoben. Von der Nervenklinik für Kinder, in welcher er sich entgegen seinen Angaben nur wenige Monate befand, entwich er.
Nach dem damaligen Gutachten handelt es sich bei dem Beschuldigten um einen erblich schwerbelasteten, verstandesmäßig alterentsprechend befähigten, charakterlich nach mehreren Richtungen grobartigen Jugendlichen, wobei im Vordergrund eine monströse Gemütsarmut zu beobachten war.
Es wurde eine ungünstige Prognose erstellt und der Beschuldigte als nicht erziehbar qualifiziert. Der weitere Lebensweg des Beschuldigten scheint, was zumindest die Prognose betrifft, dieses Gutachten zu bestätigen. (…)
Vom psychiatrisch-psychologischen Standpunkt ist daher eine ungünstige Prognose zu stellen und es steht zu befürchten, daß der Beschuldigte im Falle einer Entlassung aus dem Strafvollzug Straftaten mit ähnlichen Folgen begehen wird, wie der aktengegenständlichen.
Da der Beschuldigte nicht nur mangelhaft eigenständig ist, sondern auch aktiv soziopathisch ist, ist er vom psychatrisch-psychologischen Standpunkt auch als Hangtäter zu qualifizieren.“
Das Gutachten vom 12.Jänner 1944, das Gross zitiert, wurde von seinem Vorgesetzten der Kinderfachabteilung am Spiegelgrund, Primar Dr. Ernst Illing verfaßt. Mit Gutachten dieser Art wurden die zu tötenden Kinder dem sogenannten Reichshauptausschuß – der Zentralstelle für Euthanasie im 3. Reich – in Berlin gemeldet. Jetzt benutzt es Gross, um einen Zeugen seiner Morde am Spiegelgrund auf lange Zeit hinter Gitter und zum Schweigen zu bringen. Wer glaubt schon einem Zuchthäusler?
Weder dem Richter und dem Staatsanwalt, noch dem Verteidiger fallen die Widersprüche auf: Was macht ein jugendpsychatrisches Gutachten von 1944 in der Krankengeschichte? Warum schenkt Gross diesem Gutachten soviel Aufmerksamkeit? Woher will Gross wissen, dass sich Zawrel „entgegen seinen Angaben nur wenige Monate“ in der Anstalt am Spiegelgrund befand? Und wie kann Gross behaupten, dass sich Zawrel „in den Heimen teils angepaßt“ verhielt, „teils kam es zu groben Verhaltensstörungen (Lügnereien, homosexuelle Handlungen etc.)“. Warum fragt Gross laut Transkript recht früh im Gespräch mit Zawrel: „War der Vater auch in einer Anstalt?“ Was heißt hier „auch“? Noch hat Zawrel ihn nicht auf den Spiegelgrund angesprochen. Erinnert er sich sofort an den Namen Zawrel? Verspricht sich Gross? Oder verschreibt sich die Sekretärin später beim Transkribieren? Und warum sagt Gross, als Zawrel das Gutachten von Illing aus dem Jahr 1944 erwähnt: „Das wird aber nicht mehr existieren!“, wenn er es dann für seine Zwecke um so weidlicher benutzen wird?
Niemand stößt sich an den Textbausteinen aus dem Illing-Gutachten wie jener Unterstellung, bei Zawrel sei eine „monströse Gemütsarmut“ zu diagnostizieren; Werner Vogt wird 1981 festhalten, dies sei „keine Diagnose, sondern eine gemeine Beschimpfung eines in Anstalten groß und schwach gewordenen Kindes.“[19]
Friedrich Zawrel wird wegen einer Schadenssumme von 20.000 Schilling auf Grund des Gutachtens von Heinrich Gross zu sechs Jahren Haft mit anschließender Einweisung auf zehn Jahre in eine Anstalt für gefährliche Rückfallstäter verurteilt. Zawrel geht in Haft, Gross geht nach Hause. „Wohl und Wehe“: Auf die Lebensläufe von Heinrich Gross und Friedrich Zawrel bezogen, fällt die Zuordnung leicht.
[1] „profil“, 23/81, Seite 44
[2] Parl. Anfrage Nr. 3799/J-NR/1998
[3] AZ, April 1979 (ein Tag vor Beginn des 1. Prozeß’ gegen Vogt)
[4] Parl. Anfragebeantwortung 5171/AB XX. GP
[5] Gross im Medienverfahren gegen Dr. Werner Vogt am 21.5.1979 als Zeuge. Aus: Eingriffe 13/14, 1/2. Quartal 1980, Seite 29
[6] siehe 2
[7] ebd.
[8] Walter Kleindel, Wien 1995, Seite 578
[9] Beitrittserklärung zum BSA vom 6.6.1951
[10] Eingriffe 13/14, 1./2. Quartal 1980 Seite 28
[11] zur Nomenklatur der Einrichtungen: Peter Malina, Wien 1999, Gutachten im Verfahren gegen Dr. Heinrich Gross, Seite 104
[12] Matthias Dahl, Wien 1998, Seite 164
[13] ebd. Seite 32
[14] ebd. Seite 138
[15] aus der Urteilsbegründung des OLG Wien vom 30.3. 1981
[16] Matthias Dahl, Wien 1998, Seite 132
[17] siehe 2
[18] Gerichstpsychatrisches Gutachten im Auftrag des LG für Strafsachen Wien vom 11.11.1975 von Dr. Heinrich Gross, 3a Vr 643/74, HV 171/75
[19] „profil“, 23/81, Seite 44