Biologisch mag die Evolution zu diesem Zeitpunkt vor vielleicht 20.000 Jahren ihr Werk bereits verrichtet haben, aber es lässt sich durchaus argumentieren, dass es erst die Schrift ist, die den Menschen zu jenem Geschöpf macht, das sich die Welt nach seinen Vorstellungen (unabhängig von den Konsequenzen) zu gestalten vermag. Mit der Schrift löst sich der Mensch nicht nur aus der Gleichförmigkeit der Zeit, sondern auch aus der Zeit selbst. Wenn schon nicht sein Körper unsterblich wird, seine Gedanken haben eine Chance darauf – vorausgesetzt, sie sind die Höhlenwand, den Papyrus, die Tonscherbe, das Pergament oder den Mikroprozessor wert, auf denen sie festgehalten werden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Es ist lohnend sich ab und an diese Bedeutung der Schrift als Manifestation des Geistes bewusst zu machen. Und genau das vermag der Band von Andrew Robinson, der ob seiner Übersichtlichkeit als Einstieg in die Materie empfohlen werden kann. Ein Aspekt sei besonders hervorgehoben und entsprechend gelobt: Der Autor befasst sich ausführlich mit der Proto-Schrift, also jenen Zeichen und Kürzel, die wohl als Gedächtnisstütze angefertigt wurden, bevor sich vollständige Lautsysteme entwickelten. Robinson macht deutlich, dass die Schrift ihre Vorläufer aber nicht notwendigerweise ersetzt, sondern überformt. Das ist deswegen so spannend, weil damit jener entscheidende Schritt nachvollziehbar wird, mit dem der Mensch seine eigene Existenz über den unmittelbaren Moment hebt. Und diesen Moment erleben Kleinkinder beim Erlernen der ersten Buchstaben genauso wie Reisende, die sich in einer vorerst unbekannten Schriftwelt wiederfinden. Falls Sie das noch schriftlich brauchen: lesenswert.
„Bilder, Zeichen, Alphabete. Die Geschichte der Schrift“ von Andrew Robinson, übersetzt von Josef Billen, Lamber-Schneider, 176 Seiten, € 25,60