Der technische Aufwand ist auch nach heutigen Maßstäben beeindruckend: An einem Augusttag des Jahres 1860 hievten ein Fotograf der k. k. Hof- und Staatsdruckerei und seine Gehilfen eine riesige Kamera sowie mindestens zwölf große Glasplatten auf den Südturm von St. Stephan, um fast von der Turmspitze aus mehrere Tage lang das Wiener Stadtgebiet fotografisch aufzunehmen und die Aufnahmen in einem mitgebrachten Dunkelkammerzelt an Ort und Stelle zu entwickeln.
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Das Ergebnis war ein beinahe geschlossenes Rund-um-Panorama Wiens, das zum einen die Möglichkeiten des damals neuen Mediums der Fotografie dokumentiert und zum anderen das Stadtbild des mittleren 19. Jahrhunderts. Die noch nicht regulierte Donau ist da noch zu erkennen und die enormen Festungsmauern samt dem vorgelagerten Glacis. Noch verblüffender als solche Entdeckungen verschwundener urbaner Strukturen ist, was nicht verschwunden ist. An den Hauptachsen der Innenstadt und der Vorstädte hat sich ebenso wenig geändert wie an den mächtigen Palais mit ihren Gärten wie dem Belvedere oder Großbauten wie dem alten AKH. Die verhältnismäßig geringen Veränderungen sind umso markanter, wenn man sich die Diskrepanz zu europäischen Metropolen wie Paris, London, Berlin oder Moskau vergegenwärtigt, die im späten 19. Jahrhundert von Grund auf neu erfunden wurden. Herausgeber Walter Öhlinger hat verdienstvolle und informative Texte zu dieser Reproduktion aus dem Jahr 1929 verfasst, die auf treffende, und deswegen unangenehme Weise Wien gerecht wird, dokumentieren die Bilder letztlich das enorme Beharrungsvermögen dieser Stadt. Oder mit Alfred Polgar gesagt: „Ich muß über diese Stadt ein vernichtendes Urteil abgeben: Wien bleibt Wien.“
„Rundblick vom Stephansturm. Panorama von Wien im Jahre 1860“ von Walter Öhlinger (Hg.), Edition Winkler-Hermaden , 54 Seiten, € 49,90