12|10|08: Eric Kandel – Das Gehirn als Kunstwerk

 

Ende Mai 2007 im Wiener Kindermuseum Zoom: Wir sehen einen hochvergnügten, älteren Mann inmitten Wiener Schülerinnen und Schüler, wie sie beim inszenierten Gruppenbild zur Verzweiflung der Fotografen und diverser Aufsichtspersonen rumblödeln. „Comic relief“, nennt sich diese Stimmung ebenso treffend wie unübersetzbar auf Englisch. Die Aufmerksamkeit und Spannung der halben Stunde zuvor ist von allen abgefallen. Die Kinder haben Eric Kandel zugehört, wie er von seiner Kindheit in Wien, seiner Flucht vor den Nazis, seiner Karriere als Neurowissenschaftler in den USA und dem Medizin-Nobelpreis im Jahr 2000 berichtet hat. Und er hat ihnen einen Satz mitgegeben, den er bei wohl jedem Vortrag wiederholt. Die Zuhörerinnen und Zuhörer sind nach der Veranstaltung andere Menschen als vorher – nicht in einem diffus metaphysischen Sinn, sondern ganz real im Verständnis der Physik: Beim Zuhören entstehen neue Nervenverbindungen, die es uns ermöglichen, das eben Erlebte wieder abzurufen, uns also später daran zu erinnern. Und war das Erlebnis besonders eindrucksvoll, verdichten sich diese Verbindungen und es wird Teil unseres Langzeitgedächtnisses. Mit anderen Worten: Wenn Menschen lernen, verändert sich ihr Gehirn – und damit verändern sie sich selbst.

Dieser Tage kommt Eric Kandel wieder nach Wien, diesmal um die deutsche Fassung seines neuen Buchs „Das Zeitalter der Erkenntnis“ vorzustellen. Eine herkömmliche Rezension ist nicht möglich, denn die hat sich der Verlag bis zum 8. Oktober verbeten, dieses Heft erscheint aber eine Woche zuvor. Außerdem ist der Autor dieser Zeilen befangen, weil Kandel beruflich verbunden, ist der Neurowissenschaftler unter anderem Mitglied des Kuratoriums des Institute of Science and Technology (IST) Austria, als dessen Mediensprecher der verhinderte Rezensent fungiert.

Doch Kandel hat nie ein Geheimnis aus den beiden Faszinosa seines Lebens gemacht: Das lernende Gehirn. Und Wien um 1900. Mit seinem neuen Buch  vereint er beide Themen und befasst sich, wie es im Untertitel heißt, mit der „Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute“. Es geht ihm um die Frage: „Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir Kunst betrachten?“ Ein mächtiges Unterfangen. Die allermeisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schrecken davor zurück, zwei derartig vielschichtige Komplexe in einem Buch (geschweige denn in einem Untertitel) zu behandeln. Viel zu diffus sind sowohl das Gehirn wie die Kunst, viel zu groß die Gefahr die eigene Empfindung zum Maßstab der Wahrnehmung und der Erkenntnis zu machen. Doch Kandel hat Erfahrung mit der Verquickung von üblicherweise getrennt behandelten Fragestellungen, wie er schon mit seinem letzten Buch bewiesen hat. In „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ beschreibt Kandel anhand seines Lebensweges wie er erst mit Hilfe der Geschichte und der Literatur, dann der Psychoanalyse und schließlich der klassischen Medizin ein neues Verständnis für die Funktionsweise der Erinnerung entwickelt hat. Mit dem Buchtitel (sowohl auf Deutsch wie auf Englisch) hat Kandel schon seine Freude an der Grenzüberschreitung zur Kunst hin angedeutet, bezieht er sich damit doch auf Prousts „À la recherche de temps perdu“.

Mit seinem neuen Buch überwindet Kandel die Grenze vollständig. Das Titelbild illustriert es: Der Autor steht vor einer deutlich vergrößerten Abbildung von Klimts „Adele Bloch-Bauer I“, einem Bild, dass das Potenzial an Kreativität und an Grauen des letzten Jahrhunderts auf eine fast peinigende Weise verdichtet. Das Gemälde steht ebenso für Klimts Meisterschaft und für das so katalytische wirkende jüdische Wiener Großbürgertum um 1900 wie für die Vertreibung und Vernichtung desselben durch die Nazis und ihre willigen Helfer sowie für das darauf einsetzende bleierne Schweigen über diese Taten. Es ist den Recherchen des 2006 verstorbenen Hubertus Czernin zu verdanken, dass die „Adele“ nach einem Jahrzehnte schwelenden Rechtsstreit von der Republik den rechtmäßigen Erben rückerstattet wurde. Das Gemälde steht damit für die Verschränkung von Kunst und Erinnerung – und für die Macht, die Kunst und Erinnerung innewohnt. Es lässt sich also kein besseres Titelbild denken. Und es lässt sich sagen, dass es dem lesenden Publikum genau so ergehen wird, wie den Kindern 2007. Sie werden nach der Lektüre andere Menschen sein als zuvor.

  • “Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unterbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute“ von Eric Kandel, übersetzt von Martina Wiese. Siedler Verlag, 704 Seiten, € 41,20
  • Festvortrag von Eric Kandel am Dienstag, den 9. Oktober 2012, 17.00, im Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wien 1, Ignaz-Seipel-Platz 2)
  •  Eine Kurzfassung des Textes erschien im Universum Magazin, Oktober 2012