Zwei Osterbücher und ein Film – warum auch immer, zum Thema Existenz.
An sich macht ja das praktisch uneingeschränkte Lob des Feuilletons für Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ so ein Buch verdächtig. Noch dazu, wenn sich die Handlung in einem Absatz und ein paar sehr vorhersehbarer Plagen jugendlicher Protagonisten (Schule, Eltern, Hormone) zusammen fassen lässt. Aber manchmal entzieht sich ein Text eben den üblichen Kategorien von Hype und Literaturkritik. Vordergründig mag das mit Herrndorfs existenzieller Erkrankung zu tun haben; die Chronik des Verlaufs ist in seinem Blog mit ebenso verblüffender wie ergreifender Offenheit und Präzision bei gleichzeitiger Absenz von ästhetisierender Selbstgefälligkeit dargestellt. Aber tatsächlich mag die Glaubwürdigkeit seiner Gestalten in „Tschick“ damit zu tun haben, dass der Autor die von ihm erschaffenen Gestalten einfach und vorbehaltlos liebt. Ob das nun mit seiner Erkrankung zu tun hat oder nicht, kann den Lesern egal sein. Dank an T.R. für die Empfehlung
Existenz, Exempel 2: Auch „Ziemlich beste Freunde“ hat als Film jede Menge Lob erfahren, wobei die Geschichte vom reichen, aber querschnittgelähmten Schnösel und seinem armen, aber starken Pfleger erst einmal nicht den üblichen Verwertungsmustern entspricht: Selbst wenn die Widersprüche sonst für ein Script recht brauchbar sind, scheint das letztlich tragische Schicksal zu abstoßend. Das dem Drehbuch zu Grunde liegende Buch geht weit über die Story des Films hinaus. Philippe Pozzo di Borgo erzählt über seine Herkunft, seine Ehe, seinen Unfall; die Beziehung mit seinem „Schutzteufel“ Abdel nimmt nur einen verhältnismäßig geringen Anteil an. Und obwohl in diesem Buch jede Menge jener ästhetisierenden Selbstgefälligkeit zu Tage tritt, die sich Herrndorf spart, vermag Pozzo in den Passagen, in denen er möglichst genau und beiläufig die Umstände und Folgen seiner fast völligen Lähmung beschreibt, jene intensive Verbindung herzustellen, die Autoren und Bücher zu zeitweiligen Gefährten machen.
Existenz, Exempel 3, diesmal als Film: „Orlando“ von Virginia Woolf ist unausweichlich ästhetisierend, ja geht aus von der Ästhetik als Selbstzweck. Der Film von Sarah Potter bedient sich ausführlich diesen so dargebotenen Gefühls- und Bilderwelten. Natürlich lässt sich der Stoff als Geschichte einer kontinuierlichen Elitenherrschaft im Kontext der Entwicklung Englands zum globalen Imperium lesen, wobei die Eliten die revolutionären Eruptionen durch zeitgerechte Adaptionen der Regierungsform und Konzessionen an die aufstrebenden Klassen für sich zu nutzen wissen. Aber genau so ist es eben eine Geschichte der Sehnsucht nach dem erahnten, aber nie arretierten Antipoden in sich selbst, dessen Verwirklichung nur um den Preis der Versagung der vorher gehenden Identität zu erzielen ist. Tilda Swinton spielt diese Aspekte nicht, sondern widerspiegelt sie in ihrem Gesicht, zu dem man in diesem Film nichts anderes als Antlitz sagen darf. Und während Billy Zane als ihr Gefährte einfach so aussieht, als sei er eben 1993 gecastet worden, hat sich Swinton in dem Film jene Zeitlosigkeit angeeignet, die Woolf Orlando zugeschrieben hat.