Ernst Schmiederer hat mich vor einigen Tagen an ein Plakat erinnert, dass ich 1997 für einen Wettbewerb der Stadt Wien entworfen habe. Der Entwurf wurde mit einem Trostpreis (einem Solartaschenrechner, wenn ich mich richtig erinnere) honoriert. Die Idee war mir aber so wichtig und schien mir so brauchbar, dass ich Max Koch, damals Leiter des inzwischen verblichenen Wiener Integrationsfonds, das Sujet anbot. Einem Vertrag vom August 1997 zufolge ließ der Fonds je 1000 Plakate in DIN A1 und DIN A2 anfertigen. Eines davon fand seinen Weg in die Handelsakademie Polgarstraße in Wien-Donaustadt, wo Ernst Schmiederer dieser Tage das Plakat wieder entdeckte.
Im Jahr 2000 wurde der Entwurf von der Initiative Minderheiten in die Plakatausstellung „Am Anfang war der Kolaric“ aufgenommen. Die erste Station dieser Ausstellung war das psychosoziale Zentrum Esra in Wien-Leopoldstadt. Anläßlich der Eröffnung der Ausstellung am 23. März 2000 habe ich den Begleittext zu dem Plakat zu einer Rede erweitert.
„Wer heute den Jauerling oberhalb der Wachau besteigt, denkt nicht daran, daß der Berg seinen Namen dem slawischen javor, dem Ahornbaum, verdankt. Und wer auf dem Weg von Wien nach Mattersburg an Pöttsching vorbeifährt, ahnt nichts von den Petschenegen, einem asiatischen Volksstamm, der nach der Landnahme durch die Ungarn im 10. Jahrhundert als Wächter an der Westgrenze des ungarischen Reichs dort angesiedelt wurde.
Sprachwissenschaftler gehen davon aus, daß topographische Bezeichnungen entwicklungsgeschichtlich besonders alt sind. Oft deuten sie auf längst vergessene Sprachen und Völker hin. Die alten Namen für Berge, Gewässer oder Orte aber werden häufig von den neuen Sprachen und Völkern übernommen. Der Name verliert seine ursprüngliche Bedeutung, er wird zu einem Code, er verselbstständigt sich.
Ähnlich ist es mit Straßennamen. Am Fleischmarkt gibt es keine Verkaufsstände unter freiem Himmel mehr, unter den Tuchlauben wird nicht mehr ausschließlich mit Textilien gehandelt, am Salzgries kein Salz feil geboten – doch immerhin haben sie ihre Funktion als Geschäftsstraßen bewahrt.
Manchmal ist die Abstraktion radikaler: Die Hafengasse im 3. Bezirk führt zu keinen Docks oder Kai-Anlagen. Und Am Kanal im 11. Bezirk haben keine Dampfer angelegt, sondern der Ostbahn-11-Platz, Gemeindebauten und der Zentralfriedhof. Wer nachforscht, wird die Namen als Relikte des Wiener Neustädter Kanals samt Hafenbecken erkennen, die im 19. Jahrhundert zugeschüttet und durch die Aspangbahn ersetzt wurden.
Woher kommt diese Beharrlichkeit bei den Straßenbezeichnungen? Warum bleiben die alten Straßennamen erhalten, selbst wenn sie ihren Sinn verloren haben? Die Bewohner der Hafengasse würden sich lautstark beschweren, käme man auf die Idee, den Namen durch seine heutige Funktion – etwa „Aufgelassener-Bahnhof-Gasse“ zu ersetzen. Woher also diese Beharrlichkeit? Meine Antwort: Der Name der Straße, in der man wohnt, wird zum Teil der eigenen Identität. Die Bewohner sind diese Adressen gewohnt. Ohne Not oder überzeugende Argumente würden sie die Adressen genauso wenig aufgeben wie die eigene Wohnung. Ich bin in meinem Leben bisher elf mal umgezogen. Ich kann Ihnen die Adressen (wahrscheinlich samt Postleitzahl und Telefonnummer) im Schlaf aufsagen, obwohl dieses Wissen so gut wie nutzlos ist. Ich nehme an, Ihnen wird es ähnlich gehen.
Ich empfinde diese Beharrlichkeit als positiv, weil sie Decodierungen ermöglicht. Die Häuser verändern sich, werden abgerissen, neu gebaut; die Aufgaben verändern sich: aus Handelsplätzen wie dem Heumarkt oder dem Getreidemarkt werden Durchzugsstraßen. Doch hinter dem Wortlaut – und das war die Absicht meines Plakats – wird die ursprüngliche Bedeutung hörbar, werden alte Verbindungen erkennbar, werden Generationen übergreifende Identitäten verständlich: Griechengasse, Ungargasse, Pragerstraße, Afrikanergasse, In der Krim, Havannaweg – diese Namen erzählen Geschichten von jahrhundertelangen Verbindungen, von exotischen Sehnsüchten, von erwiesener Hilfe, von überwundener Not.
65 „Ausländer“ – im Sinne von Menschen und Orten – sind auf dem Plakat vermerkt. Zur ersten Kategorie gehören Griechen, Franzosen, Schotten oder Türken. Zur zweiten Gruppe zählen Städte (Hamburger Straße), Länder (Mexikoplatz) oder Landschaften (In der Krim). Vier Kontinente lassen sich entdecken: Europa (Hollandstraße), Afrika (Marokkanergasse), Asien (Jerusalemgasse) und Amerika (Argentinierstraße). Das Plakat soll keine vollständige Liste aller Namen mit ausländischen Bezügen sein; Mehrfachnennungen wie Schottengasse, Schottenring und Schottenfeldgasse, Türkenstraße und Türkenschanzpark habe ich vermieden.
Die Namensgebung verdeutlicht – bei allem Zufall – die multikulturellen Traditionen Wiens. Der Schottenring erinnert an die Zeit der Babenberger, als Mönche von den britischen Inseln mit ihrem Kloster auf der Freyung Bildung und Handwerk in Wien förderten. Die Ungargasse weist auf den uralten Handelsweg in Richtung Pannonien hin, die Griechengasse auf die frühe byzantinische Gemeinde in der Stadt.
Manche Namen rufen die breitgefächerten Wurzeln der Donaumonarchie (Lothringerstraße, Am Modenapark) und ihre Siege (Belgradplatz, Türkenstraße, Novaragasse) in Erinnerung. Die Niederlagen werden gerne vergessen, eine Königsgrätzer Straße wird man vergeblich suchen.
Einige Namen entsprechen Richtungsangaben (Prager Straße, Dresdner Straße), andere mutierten durch Volksetymologie zu geographischen Bezeichnungen. Die Pariser Gasse verdankt ihre Bezeichnung nicht der französische Hauptstadt, sondern einem Fresko an einem – längst verschwundenen – Haus in dieser Gasse, das „Die Wahl des Paris“ aus der griechischen Mythologie darstellte. „In der Krim“ saßen nie Russen oder Tataren vom Schwarzen Meer, sondern die Wiener bei einem Bier eines Braumeisters namens Grimmer. Eine veritable Entdeckungsfahrt kann man mit dem Finger auf dem Stadtplan oder mit einem Straßenbahnfahrschein unternehmen: von der arktischen Kälte der Nordpolstraße bis zum karibischen Flair am Havannaweg. Was sie gemeinsam haben: Sie sind lauter Ausländer, sie sind lauter Wiener.
Diese Namen setzen uns Gegenwärtige in Bezug zur Vergangenheit – und zwar ständig, alltäglich, beim Einkauf, am Weg in die Schule oder in die Arbeit, beim Umsteigen während einer Fahrt mit der Straßenbahn. Sie wirken deswegen nachdrücklicher als jedes Denkmal, jede Resolution, jede Präambel.
Demokratisch legitimierte Verwaltungen halten sich bei Straßenbenennungen – abgesehen von Neubauvierteln – zurück. Sie scheinen zu ahnen – ein Wissen will ich hier nicht unterstellen –, daß es sich bei den Straßennamen um Bestandteile der Identität ihrer Bewohner handelt; ganz abgesehen von den Scherereien bei der Änderung von Parkraumverordnungen, Wahllisten und Meldezetteln. Dikataturen hingegen nehmen den öffentlichen Raum ebenso in Besitz wie den Staat. Ihnen geht es darum, alte Identitäten auszulöschen, neue zu definieren. Sie versuchen ihre Ideologien durch Begriffe der Alltagssprache – wie es Straßennamen nun einmal sind – im Bewußtsein der Menschen möglichst tief zu verankern. Möglicherweise ist der Umgang mit Straßennamen also ein aussagekräftiges Indiz für totalitäre Tendenzen in einer Gesellschaft.
Doch ab und zu ringen sich auch demokratische Verwaltungen zu Umbenennungen durch, dann aber aus einem besonders gewichtigen Anlaß. Wenn es nämlich darum geht, mit einer Straßenbezeichnung ein Zeichen zu setzen: Zeichen der Dankbarkeit wie im Fall der Argentinierstraße, so benannt um an die Hilfslieferungen aus Argentinien nach dem 1. Weltkrieg zu erinnern. Oder wie im Fall des Mexikoplatzes: Mexiko war das einzige Land, das 1938 gegen die Okkupation Österreichs protestierte.
Es gibt auch unbewußte Zeichensetzungen durch die Stadtverwaltung: So liegt die Bruno-Kreisky-Gasse – seit 1991 so benannt – zwar sehr zentral, doch führt keine Tür in eines der angrenzenden Gebäude. Wenn man so will: Kreisky wird der Eintritt verwehrt. Mich erinnert das an animistische Kulte: Der Ahne wird zwar verehrt, ihm wird ein Denkmal gesetzt oder ein öffentlicher Raum gewidmet, doch sein Geist möge die Lebenden verschonen. Der Ordnung halber: Die Benennung dieses bis dahin namenlosen Verbindungsstücks zwischen Ballhausplatz und Minoritenplatz wurde durch eine sozialdemokratische Stadtverwaltung veranlaßt.
Ein anderer Fall von unbewußter – oder soll man sagen: unterbewußter? – Zeichensetzung geschah unlängst in Oberwart: Dort wurde der ebenfalls bis dahin namenlose Feldweg, der zur Roma-Siedlung am Ortsrand führt, nach einem Nazi-Arzt benannt. Aus Ungeschicklichkeit, ohne böse Absicht, wie der Bürgermeister betonte, als SOS Mitmensch auf diese Verhöhnung hinwies. Der Arzt sei als Samariter im Ort bekannt gewesen, auf seine Nazi-Vergangenheit habe man einfach vergessen. Inzwischen wurde die Straße nach einem Hügel in der Nähe umbenannt.
Vorsicht ist also geboten, wenn man – wie ich es jetzt tun werde – die Umbenennung einer Straße fordert. Ich tue es trotzdem. Ich wünsche mir eine Sarajewo Straße, oder noch besser, einen Sarajewo Ring. Mit Sarajewo verbindet Wien ungeheuer viel: Der Ausbruch des 1. Weltkriegs, der Zusammenbruch des Vielvölkerstaats, die Praxis einer multikulturellen Gesellschaft, die Praxis der Zerstörung einer multikulturellen Gesellschaft, die tatsächlich bemerkenswerte Hilfsbereitschaft der Österreicherinnen und Österreicher im Rahmen der Aktion „Nachbar in Not“, Wiens noch immer nicht genutzte, aber noch immer nicht vergebene Funktion als Mittlerin zwischen West und Ost.
Ich halte eine Umbenennung für legitim, wenn sie nicht behördlich verordnet, sondern durch einen dezentralen, öffentlichen Diskussionsprozess, durch einen Akt der Zivilgesellschaft erstritten, argumentiert und herbeigeführt wird. Ich halte eine Umbenennung für legitim, wenn damit ein Zeichen der Verbundenheit mit Opfern des Kriegs, der Zerstörung, der Folter, von ethnischen Säuberungen gesetzt wird. Ich halte eine Umbenennung für legitim, wenn der Weg zu dieser Zeichensetzung einen Erkenntnisprozeß auslöst. Ich halte eine Umbenennung für legitim, wenn damit an die Tradition der Vielfalt angeknüpft wird.
Ich wünsche mir also die Umbenennung eines Teils der Ringstraße in Sarajewo Ring. Sie fragen, welchen Teil der Ringstraße man umbenennen sollte? Ganz einfach: Zwei prominente Ortsbezeichnungen für einen prominenten Wiener Antisemiten sind zuviel.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.“