Universum Magazin, September 2011
Eierlikör in Alpbach
Die Technologiegespräche präsentieren sich einmal mehr als unsortiertes Themenbüschel – mit bemerkenswerten Knospen und Blüten.
Das Jahresmotto des Europäischen Forums Alpbach ist üblicherweise von stuppender Schlichtheit, intellektuell irgendwo zwischen Schulaufsatz und Regierungserklärung angesiedelt. Der diesjährige Titel („Gerechtigkeit – Verantwortung für die Zukunft“) bildete da keine Ausnahme. Das ist zum einen der an sich nicht zu bewältigenden Aufgabe geschuldet, ein Themenbüschel subsummieren zu müssen, das den chinesischen Städtebau genau so umfasst wie die österreichische Vorsorgemedizin und die innenpolitischen Umwälzungen in Liechtenstein. Der zweite Grund für die holzschnittartige Kargheit des Mottos, die den Figuren in den Weihnachtskrippen der Tiroler Stuben gut ansteht, ist seine Irrelevanz: Jeder Vortrag, jeder Arbeitskreis der zwischen Mitte August und Anfang September abgehaltenen insgesamt 15 Blöcke dient vor allen anderen Dingen im günstigsten Fall der Unterhaltung, im seltenen Fall sogar der Aufklärung des jeweiligen Zielpublikums, und nicht der Herstellung eines überspannenden Themengeflechts. Mehr als drei Tage in Folge ist praktisch kein Gast anwesend, das veranstaltende Personal und einige außerordentlich hartgesottene JournalistInnen ausgenommen.
Unter diesem Aspekt betrachtet sind die diesjährigen Technologiegespräche vom 25. bis 27. August als voller Erfolg zu bewerten. In der Menge der mediokren Veranstaltungen schimmerten einige Juwele hervor, deren Themen und ReferentInnen Lob und Dank verdienen, dazu später mehr. An dieser Stelle wird der dritte Grund für die Vernachlässigbarkeit des Generalmottos deutlich. Denn was sich außerhalb der Veranstaltungsorte im Congress Centrum und in der Hauptschule abspielt, wird für ebenso relevant gehalten wie die Veranstaltungsreihe, wenn auch nicht so offensichtlich und bedarf deswegen keines Titels: In Alpbach beginnt die politische Herbstsaison in Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungspolitik. Die Themen, die in Alpbach zum ersten Mal in Pressekonferenzen, auf der Terrasse im Wirtshaus Jakober oder in einem der Hinterzimmer des Böglerhofs (mit dem irritierenden Vornamen „Romantikhotel“) aufgebracht werden, stehen auf der Agenda der kommenden Monate.
Die Pressekonferenzen
Zwischen Konferenzzentrum und Zotta-Alm
Die erste Runde im Kampf um die Themenführerschaft in der Tiroler Bergwelt ging an den Novizen: Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle stellte schon zwei Tage vor dem offiziellen Auftakt den von ihm in Auftrag gegebenen Bericht „Zur Entwicklung und Dynamisierung der österreichischen Hochschullandschaft“ vor. Zusammengefasst empfehlen die drei ausländischen ExpertInnen „nichts, was nicht schon in irgendeiner Weise in Österreich schon einmal vorgeschlagen worden wäre“, wie es Andrea Schenker-Wicki, Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Zürich, ausdrückte. Dazu gehören Zugangsregelungen etwa als Kombination von Maturazeugnis und Aufnahemtest auf jeden Fall für das Master- und PhD-Studium, bei erhöhtem Andrang auch für den Bachelor. Für die alles dominierende Finanzierung empfiehlt der Bericht die Herkunftsländer jener 20 Prozent der Studierenden (60.000) aus dem Ausland in die Pflicht zu nehmen. Spannend: Die Bundesländer, die bislang nur bei FHs und Privat-Unis mitzahlen, sollten sich an den Infrastrukturkosten beteiligen. In der derzeitigen Regierungskonstellation praktisch auszuschließen: Studiengebühren mit erneuertem Stipendiensystem. In Summe würden die Vorschläge knapp 800 Millionen Euro pro Jahr bringen. Interessant: Das Angebot an den Fachhochschulen soll markant ausgebaut werden, um die Unis zu entlasten. Derzeit studieren 89 Prozent an Unis, elf Prozent an FHs, in Zukunft sollen es 40 Prozent sein.
Die Reaktion der SPÖ folgte am Freitag via Pressekonferenz von Unterrichtsministerin Claudia Schmied in Wien und hörte sich gar nicht so kategorisch abweisend an wie vermutet. So wie sich bei der ÖVP zunehmend AbweichlerInnen gegen die Verweigerung der Gesamtschule durch die Lehrergewerkschaft und ihren politischen Arm im Parlament finden lassen – die entsprechend aufgeschlossenen SteirerInnen waren in großer Zahl in Alpbach vertreten –, wird auch das Meinungsbild in der SPÖ vielfältiger: Salzburgs Landeshauptfrau Gabi Burgstaller will Zugangsbeschränkungen und Studiengebühren „ernsthaft diskutieren“, lehnt aber erwartungsgemäß eine Finanzierung von Universitäten durch die Bundesländer ab.
Überraschende Akzente setzte Hannes Androsch als Vorsitzender des Rats für Forschung und Technologieentwicklung der seiner Ansicht nach „leicht lukrierbare“ Einsparungen vorschlug, um die Forschungsausgaben (im Alpbacher Slang „F&E Quote“ genannt) bis 2020 auch real in Richtung auf 3,76 % des Bruttoinlandsprodukts zu steigern: So plädierte Androsch für die Abschaffung der Hackler-Regelung, Einsparungen bei Beamten und die Einstellung „teurer“ Umschulungen durch das Arbeitsmarktservice (AMS). Hier – so Androsch – stünden die Ausgaben in keinem Verhältnis zu der Anzahl an Studierenden in Österreich und entsprechenden Aufwendungen.
Schließlich: Die bemerkenswerteste Erkenntnis der Pressekonferenz von Infrastrukturministerin Doris Bures und Wissenschaftsminister Töchterle – moderiert von dem doch schon recht schrulligen Karl Blecha – war die Tatsache, dass sie überhaupt gemeinsam stattfand. Im letzten Jahr hatte Töchterles Vorgängerin Beatrix Karl den Auftakt der Technologiegespräche abgesagt, weil sich die Regierungspartner nicht über die Forschungsstrategie einigen konnten.
Die Vorträge
Zeit für die Vorträge. Ein erkennbarer Themenstrang galt den „Smart Cities“, drei Arbeitskreise widmeten sich explizit den Perspektiven urbaner Technologien (und drängen sich eigentlich für eine genauere Untersuchung im kommenden Jahr auf). Katja Schlechter, Visiting Scholar am MIT, erläuterte Forschungsansätze zukünftiger urbaner Mobilität; gerade an ihr lasse sich „ täglich und unmittelbar die räumliche Ausformung politischer Entscheidungen begreifen“. Welche Entwicklungsrichtungen eingeschlagen werden, so Schlechter, sei noch offen und verweist dabei auf ihren Kollegen Dietmar Offenhuber vom MIT SENSEable City Lab: „Ich glaube nicht, dass die Zukunft der Stadt in der super-effizienten, allwissenden Stadt nach dem Vorbild von Singapur liegt, in der die Bürger nichts von den Abläufen mitbekommen; vielmehr stelle ich mir die Stadt als Ort vor, in dem Prozesse, Infrastruktur und Entscheidungen einem erhöhten Ausmaß an öffentlicher Wahrnehmung, Teilnahme und kritischer Überprüfung ausgesetzt sind.“
Im Arbeitskreis „Urbane Europe, urban technologies – die Stadt im 21. Jahrhundert“ ging die Stadtplanerin Kathy Pain von der University of Reading von folgender Definition aus: Städte seien heute „soziale, ökonomische, kulturelle und ökologische Einheiten, die von technologischen Revolutionen innerhalb eines internationalen Kontextes geformt werden.“ Habe man am Ende des 20. Jahrhunderts noch geglaubt, die Informationstechnologien würden letztlich zu einem „Ende der Geographie“ (Richard O’Brian) führen, weil die Dienstleistungen an jedem infrastrukturell entsprechend erschlossenen Ort der Erde verfügbar seien, sei nun zur Kenntnis zu nehmen, dass die wissens- und technologiebasierten Dienstleistungindustrien weiterhin weltweit geballt in „global cities“ anzutreffen sind, besonders stark im dicht besiedelten Westen Europas. Doch analog zur Materialisierung im urbanen Raum verdichteten gerade diese Dienstleistungsindustrien durch ihre globalen Aktivitäten die virtuellen Netzwerke in Form von Finanztransaktionen und digitalem Warenverkehr. Aus dieser Bestandsaufnahme leitete Pain die Frage ab, ob europäische Stadtpolitik den Anforderungen des globalen Wandels gewachsen ist. Weitergedacht: Nimmt die Stadtpolitik das Primat der demokratisch legitimierten Verwaltung wahr? Oder überlässt sie die Entwicklung dem Markt? Es lässt sich kein besserer Ort denken, um solche Fragen zu erörtern, als die Hauptschule in Alpbach mit Blick auf die Almen und Wälder des 2.127 Meter hohen Wiedersbergerhorns.
Im Plenum selbst manifestierte sich das Thema bei einer Diskussion unter dem Titel „Die Stadt der Zukunft“ und der Beteiligung von Coop Himmelb(l)au-Gründer Wolfgang Prix und dem Leiter des MIT SENSEable City Lab, Carlo Ratti, der auf eine jüngst vollzogene, aber allgemein unbemerkt gebliebene Zeitenwende hinwies: Seit zwei Jahren leben zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit mehr als die Hälfte der Menschen – also 3,3 Milliarden – in Städten. Wie diese und andere wissenschaftliche Erkenntnisse sinnvoll unter die Leute gebracht werden können, erklärte Ernst Peter Fischer, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Konstanz: „Kinder kommen ästhetisch neugierig in die Schule und werden begrifflich gelangweilt nach Hause geschickt. Und Erwachsene bekommen naturwissenschaftliche Erklärungen als abgeschlossenes (…) Wissen vorgesetzt, mit dem dann die Welt als entzaubert gilt. Tatsächlich sollten die Naturwissenschaften ein Staunen und ein Gefühl für das Geheimnisvolle bewirken, ist doch jede Erklärung geheimnisvoller als das Phänomen. Nach jeder Antwort stellen sich neue Fragen, wie es sich gehört, wenn es um Bildung geht.“ Eine griffige Methode präsentierte der Physiker James Kakalios von der University of Minnesota. Der Titel seiner Einführungsvorlesung: „Everything I know about science I learned from reading superhero comic books“.
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Klar, solche Vorträge gibt es als Zerstreuung bei jeder brauchbaren Konferenz. Aber der Unterschied zum herkömmlichen Symposiumstourismus („If it is Tuesday, it must be Geneva“) ist leicht erklärt: Die Einkehr bei der Zotta-Wirtin oberhalb des Ortes bei Sonnenuntergang, Kaiserschmarrn und – ehrlich – Eierlikör.