Universum Magazin, Mai 2011
Das Leben, ein Computerspiel
Ein neues Museum in Berlin würdigt Supermario, die Sims und Doodle Jump als Akteure der Kulturgeschichte und Triebkräfte von Computerinnovationen
Der Untergang des Abendlandes findet in Berlin vier Kilometer von der legendären Museumsinsel entfernt statt, wo das Antlitz der Nofretete in erhabener Schönheit über die Besuchermassen hinweg blickt, die von den Ausmaßen des legendären Pergamon-Altars überwältigt sind. „Komm, ich zeige dir ein Exponat aus dem 20. Jahrhundert“, lockt Tim eine junge Besucherin. Tim ist 15 Jahre alt und macht gerade ein Berufspraktikum im Computerspielemuseum: Berlins jüngster Schausammlung, die zu Jahresbeginn 2011 eröffnet wurde.
Tim ist für dieses Museum als Experte genau so gut geeignet wie die erfahrene Kunsthistorikerin, die im Pergamon-Museum tief in den griechischen Mythen watend ihrer Gästeschar die faszinierenden Details des in Marmor gehauenen Kampfes von Zeus gegen den Giganten Porphyrion erläutert. Tim wiederum kennt viele seiner Exponate aus eigener Erfahrung, hat praktisch alle schon einmal erprobt und kann sie gut erklären: Mehr als 300 Schaustücke, darunter rare Originale, spielbare Klassiker und Kunstwerke, ermöglichen es den Besuchern, sich ein Bild von der Entwicklung der Computerspiele seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu machen.
Ein Vergleich mit dem Pergamon-Museum macht deutlich, vor welchem Grundproblem eine moderne Mediensammlung steht. Zentrales Kriterium für die Zurschaustellung eines Objekts in einem klassischen Museum ist dessen Alter, was impliziert, dass das Objekt eine lange Zeitspanne überdauert hat. Die künstlerischen oder handwerklichen Qualitäten dieses Objekts werden immer vor diesem Hintergrund bewertet. Alter aber ist in modernen Medienarchiven, deren Objekte maximal ein halbes Jahrhundert alt sind, kein einheitlich zuschreibbares Kriterium: Zum einen weil einzig der Markt über den Erfolg und in weiterer Folge den Wert eines Spiels (beziehungsweise einer Konsole) entscheidet – und damit die Produktzyklen die Haltbarkeit definieren. Zum anderen aber, weil nichts so vergänglich ist wie ein Spiel, das in großen Lettern verkündet: „Game over“.
Das Computerspielmuseum weiß souverän mit diesem Problem umzugehen, in dem es die Spiele, die entsprechenden Konsolen und die sie umwehende Subkultur didaktisch klug und museologisch intelligent kontextualisiert. So sind auf der „Wall of Hardware“ an die fünfzig Spielmaschinen ausgestellt, die Computerspiele-Geschichte geschrieben haben. Doch viele Spiele beziehungsweise Genres erschließen sich erst in Kenntnis der technischen Möglichkeiten der dafür nötigen Hardware. Umgekehrt haben Computerspiele einen wesentlichen Anteil an der Weiterentwicklung der Computer, weil sie zu den leistungshungrigsten und populärsten Anwendungen zählen und Triebkräfte der Fortschreibung von Computertechnik sind. Oder wie es Apple Co-Gründer Steve Wozniak 1977 formulierte: „A lot of these features that really made the Apple II stand out in its days came from a game.“
Und so findet sich die „Brown Box“ von 1968 – die Mutter aller Spielkonsolen – ebenso auf dieser Schauwand wie die Xbox von 2001. Bemerkenswert bei der didaktischen Aufschlüsselung ist, dass die Entwicklungen keineswegs in Form von simplen Erfolgsgeschichten erzählt werden, sondern als Prozess technischer Innovationen, zu dem Rückschläge und Irrwege genauso gehören wie Durchbrüche und revolutionäre Adaptionen.
Diesem zentralen Modul zur Erfindung des digitalen Spiels ist ein Abschnitt zum spielenden Menschen an sich vorangestellt. Ausgehend von der Beschreibung des niederländischen Anthropologen F.J.J. Buytendijk – „Brot und Spiel braucht der Mensch. Brot, um zu wachsen und zu existieren, Spiel, um diese Existenz zu erleben.“ – wird hier das Spiel als Kernelement menschlicher Ausdrucksformen vermittelt. Den Abschluss bildet die Beschreibung des Homo ludens digitalis, des spielenden Menschen im 21. Jahrhundert. Henry Jenkins, der Leiter des legendären Media Lab am M.I.T., gibt die Richtung vor: „Let’s face it – media culture is our culture and, as such, has become an important public resource, the reservoir out of which all future creativity will arise.“
Es sind gewichtige Fragen, die in diesem Abschnitt thematisiert werden: Was genau verändert die Digitalisierung – gesellschaftlich wie im Blick auf den Einzelnen? Welche Eigenschaften, welche Kenntnisse sind in Zukunft gefragt? Welche Chancen und Risiken gehen mit der Etablierung der virtuellen Welten einher? Welche Entwicklungen sind nun zu erwarten? Fragen, die auch in dem Video-Interview mit dem Schirmherren der Schau auf der Homepage des Museums angeschnitten werden: Ralph H. Baer gilt als Vater der Heimvideospiele. Baer emigrierte 1938 mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland. Als Ingenieur war er in den USA für bislang 47 Patente verantwortlich. 2006 wurde er vom US-Präsidenten mit der „National Medal of Technology“ ausgezeichnet – dem amerikanischen Nobelpreis für technologische Erfindungen.
Das hört sich alles so an, als ob die Ausstellung arg mit Theorie überfrachtet ist. Doch Tim und seine Kollegen sorgen schon dafür, dass der Charme der Computergame-Arcade, also der Spielhölle, wie sie zuletzt im Sequel von „Tron“ wieder aufleben durfte, nicht verloren geht. Dafür garantieren allein schon die Räumlichkeiten. Bis zum Ende der DDR residierte hier auf der auf der ebenso prächtigen wie wuchtigen Karl-Marx-Allee das „Tanzcafe Warschau“. Portal und Wanddekorationen künden noch von realsozialistischer Prunksucht. In der Schau selber finden sich Nachweise dafür, dass der Klassenkampf – zumindest in seiner Spätphase – selbst auf Computerbildschirmen ausgetragen wurde: Exponate aus der DDR belegen, dass auch ostdeutsche Jugendliche sich dem Reiz der Pixel-Avatare nicht entziehen konnten. Und so erweist sich das Computerspielmuseum letztlich als ein Haus der klassischen Geschichtsschreibung. Für das Abendland heißt es also doch noch nicht „Game Over“.
Computerspielemuseum: Karl-Marx-Allee 93a, 10243 Berlin; Telefon: +49/30/60988577. Täglich 10-20 Uhr (außer Dienstags)