In der aktuellen Ausgabe des Universum Magazins analysiert Gottfried Derka die Hintergründe und Ursachen der japanischen Dreifach-Katastrophe und versucht Konsequenzen auf dem Feld der Energiegewinnung aufzuzeigen. Ich habe das Thema zum Anlaß genommen, um mich mit dem Begriff der Katastrophe zu befassen – angeregt durch mehrere Bücher, die in letzter Zeit zu dem Thema erschienen sind (siehe Leseleiste am Ende des Artikels)
Universum Magazin, April 2011
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Die kreative Katastrophe
So grauenhaft es angesichts der aktuellen Nachrichtenlage auch klingen mag: In der Natur birgt jede Katastrophe die Chance auf evolutionäre Veränderung in großem Maßstab.
Am Anfang war die Katastrophe – nämlich der Urknall. Ohne diese Ur-Katastrophe würden wir dieser Tage nicht schreckerstarrt auf den Bildschirm und nach Japan blicken, um fassungslos die apokalyptisch anmutende Dreifaltigkeit von Erdbeben, Tsunami und Atomunfall zu verfolgen: Es gäbe die Menschheit, es gäbe die Erde, es gäbe das Universum nicht. Die Beschreibung des Urknalls als Katastrophe ist dann brauchbar, wenn wir folgende Definition anwenden: Ein sich verhältnismäßig plötzlich ereignendes Geschehen, bei dem Materie unter beträchtlicher Freisetzung von Energie umgeformt wird, was existenziellen Auswirkungen auf Lebewesen hat, die an dem Ereignis selbst gar nicht beteiligt sind.
Wie so viele gängige und deswegen in die Alltagssprache eingeschwemmte Begriffe der Physik ist der Begriff „Urknall“ inhaltlich irreführend, aber anschaulich. Diesem derzeit gängigen Konzept der Kosmologie zufolge gab es zu dem angenommenen Ursprung des Kosmos nämlich gar keinen Raum, in dem sich Schallwellen hätten ausbreiten können. Der Urknall beschreibt den Zeitpunkt vor circa 13,7 Milliarden Jahren (plus/minus 200 Millionen Jahre, wir dürfen großzügig sein) zu dem Materie, Raum und Zeit aus einer einzigen Einheit – der sogenannten Singularität – mit ihrer Ausdehnung beginnen. In diesem Augenblick – also ziemlich plötzlich – bilden sich Materie und Antimaterie. Aus dem Überschuss von Materie entwickeln sich 10-30 Sekunden nach dem Urknall die Quarks.
Nach 10-12 Sekunden beginnen die vier Grundkräfte der Natur zu wirken: die schwache und die starke Wechselwirkung, die Elektromagnetische Wechselwirkung und – ein ganz klein wenig später – die Gravitation. Eine Sekunde nach dem Urknall ist die Bildung aller Teilchen, aus denen der Kosmos besteht, praktisch abgeschlossen. Keine 400 Millionen Jahre später entstehen die ersten Sterne, dann die Galaxien. Und nach noch einmal 9,1 Milliarden Jahren formt sich die Erde aus verdichtetem Sonnennebel. Letztlich befassen sich alle Wissenschaften mit nichts anderem, als den Auswirkungen dieser Urkatastrophe: die Naturwissenschaften ergründen die materiellen Folgen, die Geisteswissenschaften die ethischen und kulturellen Konsequenzen. Der Urknall markiert somit auch die Grenze zwischen Wissenschaft und Religion: Wer Bedarf an Erklärungen für den Grund des Urknalls hat, wende sich bitte an die Metaphysik.
Die Natur ohne Desaster
Worüber sich alle WissenschaftlerInnen einig sind: Der „Big Bang“ schuf die Möglichkeit für die Entstehung von etwas. Alle Katastrophen seither (egal welcher Größenordnung) schaffen die Möglichkeiten für die Entstehung von etwas neuem – indem sie etwas altes zerstören. Das klingt hart. Die Überlegung des Schweizer Schriftstellers Max Frisch löst den ethische Affront: „Katastrophen kennt allein der Mensch; sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.“
Max Frisch bezieht sich auf die Auswirkungen von Katastrophen. Doch die Unterscheidung gilt auch für die Auslöser von Katastrophen. Was uns als ferne Beobachterinnen und Zeugen an den Ereignissen in Japan so besonders erschüttert, ist die Vermengung von Ursachen (durch Natur und Mensch) mit Auswirkungen (auf Natur und Mensch). Erdbeben der Stärke 9 auf der Richterskala und der Tsunami mit Wellen von bis zu 30 Metern Höhe waren natürlichen Ursprungs – und haben Tausenden Menschen das Leben gekostet. Andererseits: Das Atom-Desaster von Fukushima ist von Menschen zu verantworten – und wird wohl viele Tausend Jahre die Natur schädigen. Die Kombination dieser beiden Verursacher ist neu, zumindest in der Realität – und deswegen so erschreckend. (In der Fiktion hat das Godzilla-Genre und andere kollektive Angstbändiger diese Visionen in Form einer trivialisierten Konfrontationstherapie bereits vorweg genommen.)
Zum Beispiel: Der Schrecken über die Ereignisse in Japan verbreitet sich in Form einer medialen Schockwelle über den Erdball. Die Kombinationskatastrophe aus der Natur und von Menschenhand rührt nicht nur eine globale Öffentlichkeit; die Ängste, die diese Kombination auslöst, stellt diese globale Öffentlichkeit erst her. Ein Gefühl greift um sich: Wir sitzen alle im selben Boot. Gemeint sind: „Wir Krisenwesen“, wie der deutsche Wissenschaftstheoretiker Gerhard Schulze, in seinem eben erschienenen Buch „Krisen. Das Alarmdilemma“ den Mensch der Gegenwart beschreibt: „Krisen sind nicht nur, aber auch ein Kommunikations- und Wahrnehmungsphänomen. Wir interessieren uns in besonderem Maß für Gefahren, Unfälle und gescheiterte Projekte, aus gutem Grund. Unsere selektive Wahrnehmung ist nicht falsch, sie ist unvermeidlich.“
Illustrationen dieses Wahrnehmungsphänomens sind in Zeiten der Katastrophe besonders plastisch: Vordergründig nachvollziehbar bewegte SchülerInnen eines Wiener Gymnasiums produzieren eine Schulzeitung, deren Erlös den Erdbebenopfern zu Gute kommen soll; der Dompfarrer zu St. Stephan appelliert auf dem Boulevard: „Spenden Sie jetzt.“ Hier wird deutlich: Die Spende dient als Ablass für die eigene Ohnmacht, fehlt es in der drittgrößten Industrienation der Welt doch nicht an Geld, sondern offenbar an Organisation und Wissen, wie Hunderttausende Obdachlose zu versorgen sind – beziehungsweise an der Vorstellungskraft, dass so ein Notfall überhaupt eintreten könnte. Hinter diesen Ersatzhandlungen steckt letztlich nichts anderes als die diffuse Angst vor vermuteten Veränderungen: Welche Folgen wird die Dreifach-Katastrophe auf uns, auf die Welt haben? WissenschaftlerInnen aller möglichen Disziplinen befassen sich seit gut 300 Jahren mit dieser Frage. Die naheliegende Antwort: Keine Katastrophe bleibt ohne Folgen. Zu welchen Auswirkungen es aber kommt, ist durchaus verblüffend.
Die Katastrophe betritt die Bühne
Die Herkunft des Begriffs der Katastrophe ist ebenso verblüffend, schlägt sie doch auf irritierende Weise einen Bogen zur gegenwärtigen Schaulust, mit der die Bilder aus Japan dramaturgisch aufbereitet, ausgestrahlt und betrachtet werden. François Walter, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Genf, erläutert in seiner im Vorjahr auf Deutsch erschienen Studie zum Thema: „Ursprünglich gehört ‚Katastrophe’ zum Wortschatz der Theatersprache und bezeichnet dort das unheilvolle Ende der Handlung.“ Erst mit der Veröffentlichung des Dictionnaire de la langue française (1863 -73) setzt sich die neue, verallgemeinerte Bedeutung eines „grand malheur, fin déplorable“ (Großes Unglück, schlimmes Ende) durch. Ein bemerkenswerter Zeitpunkt: 1859 hat Charles Darwin sein Hauptwerk „On the Origin of Species“ publiziert. Während die Evolutionstheoretiker seit Jean-Baptiste de Lamarck die Entwicklung der Lebewesen als langsamen, über Jahrmillionen verlaufenden Prozess deuteten, in dem die Veränderungen der Arten nur in kleinen Schritten erfolgten, glaubten die Anhänger der Katastrophentheorie an plötzlich eintretende Naturereignisse, die Leben vernichteten, worauf es zur Entstehung neuer Lebenswelten kommt.
Lange waren die Katastrophentheoretiker im Vorteil. Nicht zuletzt, weil sich die Sintflut zumindest als Illustration gut in ihr Konzept einfügen ließ, womit die Kirche (gleich welcher Ausrichtung) besser leben konnte, als mit der als Blasphemie gegeißelten These Darwins, dass der Mensch nicht etwa das Ebenbild Gottes, sondern ein naher Verwandter der Primaten sei. Die Auffindung und Zuordnung der ersten Dinosaurier-Knochen passten ebenfalls in das Katastrophen-Konzept. Inzwischen ist das Match entschieden, wie Erhard Oeser, emeritierter Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität Wien, in seinem eben erschienenen Buch „Katastrophen. Triebkraft der Evolution“ ausführt: Dem Konzept der unterbrochenen Gleichgewichte (“punctuated equlibria“) folgend verläuft die Evolution in Schüben. Lange Phasen kontinuierlicher Entwicklung nach den Regeln der Selektion und der Variationen werden durch Evolutionsschübe abgelöst. Und diese Schübe können durch Katastrophen – wie etwa einen Kometeneinschlag – ausgelöst werden, die zu einem Massenaussterben von Lebewesen führen.
Wenigstens fünf derartige Großkatastrophen vermeinen Paläontologen und Geologinnen ausgemacht zu haben, und zwar im Zeitraum zwischen 438 Millionen Jahren im Ordovizium und 65 Millionen Jahren am Ende der Kreidezeit. Als mögliche sechste Mega-Katastrophe gilt die Auslöschung der Ediacara-Fauna, die sich vor 650 Millionen Jahren zugetragen hat. Bizarre, federnförmige, farnartige und runde Weichtiere haben ihre Spuren in Schlamm und Sand hinterlassen, bis diese „Morgendämmerung des Lebens“ von einer Katastrophe mit einem Schlag vernichtet wurde. Die Ursache – ein Kometenhagel, ein plötzlicher Klimawandel, das „Kippen“ des Weltmeeres, eine Supernova in der Milchstraße? – ist offen, die Folgen sind hingegen klar. Gänzlich anders organisierte Lebewesen nahmen ihren Platz ein, deren Ahnen noch heute existieren: Korallen, Schnecken, Muscheln, Quallen und diverse Stachelhäuter.
Eier oder Einschlag?
Als berüchtigste Katastrophe gilt das Drama am Ende der Kreidezeit, das der Ära der Dinosaurier ein Ende setzte. Als gesichert gilt die Annahme, dass der Einschlag eines Asteroiden (möglicherweise vor der mittelamerikanischen Halbinsel Yucatan) die Lebensbedingungen schlagartig veränderte. Entweder – so der derzeitige Stand der Diskussion – durch die Verdunkelung wegen der durch den Einschlag verursachten Staubverteilung in der Atmosphäre; oder durch einen Feuer- und Hitzesturm, der alles Leben zwischen Meeresoberfläche und kühleren Bergregionen beziehungsweise Luftschichten dahin raffte. Das würde das Aussterben der Ammoniten erklären, die mit ihren Gas-gefüllten Muschelkammern auf den Wellen trieben – und das Überleben der gefiederten und flugfähigen Dinosaurier, auch bekannt als Vögel.
Lange galt diese Impact-Theorie als besonderes markantes Exempel für die Katastrophe als Evolutionsgenerator, lassen sich doch Spuren dieses Ereignisses praktisch weltweit eruieren: Die nur einen Zentimeter breite Iridium-Schicht markiert exakt die Grenze zwischen Kreide und Tertiär vor 65 Millionen Jahren. Und der ungewöhnlich hohe, weil 63-fach über der Norm liegende Iridiumgehalt dieser Schicht lässt nur eine extraterrestrische Erklärung zu.
Doch ganz so einfach ist es doch nicht. Denn bereits fünf Millionen Jahre vor dem Ende der Kreidezeit starb ein großer Teil der Meeresreptilien aus. Und drei Millionen Jahre vor dem Einschlag verschwanden auch die meisten Saurier auf dem Festland. War das Verhältnis der Eier zu den Eltern daran schuld? Beim Strauß beträgt die Relation zwischen Ei und ausgewachsenem Tier 1:60, beim Flusskrokodil 1:2.000. Bei einem Brachiosaurus von 80 Tonnen lag es bei 1:100.000. Eine wahrhaft zerbrechliche Zukunftsvorsorge. Ausgereizt ist das Thema noch lange nicht. Erhard Oeser zitiert den Schweizer Geologen Kenneth Hsü: „Das Rätsel der Katastrophe am Ende der Kreidezeit besteht nicht so sehr darin, warum so viele Arten ausstarben, sondern warum einige überhaupt überlebten.“
Der Mensch erhebt sein Haupt
Zum Beispiel die Säugetiere. Also letztlich der Mensch. Die Ursache dafür, dass der Homo sapiens als erfolgreichste Wirbeltierart der jüngeren Erdgeschichte alle möglichen (und ein paar unmögliche) Lebensräume des Planeten erobert hat, sind nach Meinung des kenianischen Paläoanthropologen Richard Leakey „mehrere Katastrophen“. Eine besonders einschneidende Katastrophe ereignete sich vor rund fünf Millionen Jahren, als der afrikanische Kontinent durch vulkanische Aktivitäten entlang des Grabenbruchs geteilt wurde – und damit auch die Habitate der Menschenaffenarten. Als vor 2,5 Millionen Jahren das Klima abkühlte, konnten westlich des Grabenbruchs „ die Menschenaffen weiterhin so leben, wie es ihrer Anpassung an dicht bewaldetes Gelände entsprach“ (Oeser). Im klimatisch benachteiligten Osten entwickelten die Hominiden den aufrechten Gang zur effizienteren Fortbewegung zwischen weit voneinander entfernten und auch beweglichen Nahrungsquellen. Leakey: „Wäre die Temperatur (…) nicht gesunken, hätte kein Evolutionsschub eingesetzt, der zu einer Anpassung an eine trockenere Umwelt führte.“ Die gravierendste Folge des aufrechten Gangs war das explosionsartige Hirnwachstum. Die Vorteile sind unübersehbar. Die diversen Hominiden-Species „sind alle in einem geologisch gesehen relativ kurzen Zeitraum von weniger als fünf Millionen Jahren ausgestorben“ (Oeser). Bis auf den Homo sapiens.
Die Geschichte seiner Ausbreitung über den Erdball in den letzten 100.000 Jahren ist begleitet von Ausrottungswellen von erstaunlicher Geschwindigkeit. Der amerikanische Biologie Paul Martin entwarf die „Blitzkrieg-Hypothese“, um das Massensterben der Großfauna in Australien und Amerika zu erklären. Wie alle monokausalen Entwürfe mutet diese These besonders schlüssig an; inzwischen ist sie auch um klimatische Faktoren ergänzt worden. Archäologisch nachweisbare Tatsache ist jedoch, dass in Australien von ursprünglich 50 Arten von zum Teil riesengroßen Beuteltieren, nur vier Arten (allesamt Kängurus) überlebten. In Amerika verschwanden in der Periode beginnend vor zwei Millionen Jahren bis vor 12.000 Jahre 50 große Säugetierarten. Dann besiedelte der Mensch die neue Welt und „vor 10.000 bis 12.000 Jahren verschwanden in einem katastrophalen Zusammenbruch der Tierwelt ungefähr weitere 57 Großsäugerarten, unter ihnen so schwerfällige Giganten wie Mammut und Mastodon“ oder Biber von der Größe eines Bären, Bisons, deren Hörner eine Spannweite von fast zwei Meter hatten und sechs Meter große Faultiere, die am Boden lebten.
Neuseeland ist ebenfalls ein markantes Beispiel für die folgenreiche Einflussnahme des Menschen. Bis zu der Besiedlung durch die Polynesier Ende des 13. Jahrhunderts hatten die Moas, riesige straußenähnliche flugunfähige Vögel, die über drei Meter groß wurden und 200 Kilo wogen, einen einzigen Feind: Den Haast-Adler, mit einer Spannweite von drei Metern der größte Greifvogel der Erdgegenwart. Die Jagd des Menschen auf den komplett arglosen Moa, so die Zoologen Trevor H. Worthy und Richard N. Holdaway, entsprach mehr einer „Besorgung im Supermarkt“ als einer anstrengenden Hatz. Ein Exempel in ökologischen Zusammenhängen übrigens: Mit dem Moa starb auch der Haast-Adler aus.
Inseln wie Neuseeland eignen sich besonders gut, um ökologische Zusammenhänge freizulegen. Der amerikanische Geograph Jared Diamond hat in seinem 2005 erschienen Standardwerk „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ am Beispiel der Osterinsel nachgezeichnet, wie eine hoch entwickelte Kultur, die eine Schrift (bis heute nicht entziffert) und die kolossalen Moais hervorgebracht hat, sich selber durch ökologischen Raubbau zu Grund richtet. Der Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist in solchen Situationen nicht besonders ausgeprägt, weswegen nach Diamond auch die Frage offen bleiben muss: „Was dachte sich jener Insulaner, der den allerletzten Baum auf der Insel fällte?“
Katastrophen im Kleinformat
Mit dem Auftritt des Menschen wird auch eine Erweiterung des Katastrophenbegriffs nötig. Wesentliche Charakteristika der Katastrophe wie oben angeführt – ein sich verhältnismäßig plötzlich ereignendes Geschehen, bei dem Materie unter beträchtlicher Freisetzung von Energie umgeformt wird – werden seit Beginn der industriellen Revolution im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vom Menschen maschinell verursacht: Die 1769 von James Watt patentierte Dampfmaschine erfüllt genau diese Kriterien und ermöglicht quasi Katastrophen im Kleinformat. Und die Folgen dieser Erfindung entsprechen auch dem zweiten Teil der Definition, hat sie doch „existenzielle Auswirkungen auf Lebewesen, die an dem Ereignis selbst gar nicht beteiligt sind“. KlimaforscherInnen setzen den Beginn der von Menschen verursachten globalen Erwärmung mit der umfassenden Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts und dem damit verbundenen drastischen Anstieg des Ausstoßes von Kohlendioxid an. Der Klimawandel dient auch als Beispiel für die zunehmenden Schwierigkeiten Ursachen und Folgen einander korrekt zuzuordnen.
Nie zuvor bedachte Komponenten gilt es in diesen Gleichungen zu berücksichtigen, wenn erst einmal der Mensch seine Finger im Spiel hat. Das Erdbeben (samt Tsunami) von Lissabon 1755 löste unter den aufgeklärten Geistern jener Zeit wie Voltaire, Leibniz und Kant heftige Diskussionen darüber aus, wie das Leiden in der Welt mit dem Wesen des gütigen Gottes vereinbar sei. Letztlich zertrümmerte das Erdbeben nicht nur Portugals Kolonialmacht, sondern auch die Verbindung von abendländischer Philosophie und christlichem Glauben – mit der Konsequenz, dass die Aufklärung zur Leitkultur des nächsten Viertel Jahrtausends werden sollte. Doch das Pendel kann auch in die Gegenrichtung des Obskurantismus ausschlagen: Der britische Autor Simon Winchester weist in seinem 2003 erschienen Buch „Krakatau. Der Tag, an dem die Welt zerbrach“ nach, wie die Mega-Eruption vom August 1883 dem Islam in Indonesien zum Durchbruch verhalf, waren es doch die muslimischen Gemeinden, die sowohl Erklärungsmuster („Gott zürnt“) wie organisierte Hilfe anbieten konnten, während sich die niederländischen Kolonialherren auf die Sicherung der Schifffahrtsrouten beschränkten.
Mit den Kriegen des 20. Jahrhunderts ist der Mensch in eine Dimension vorgedrungen, die erstmals die Selbstzerstörung einer ganzen Art möglich erscheinen lässt. Erhard Oeser thematisiert das Dilemma, das sich in diesem Zusammenhang aufdrängt: „So grausig es klingt: Nicht nur Krankheiten und Seuchen, sondern auch die mörderische Kriege in der Geschichte der Menschheit hatten oft, wenn nicht sogar immer, eine Phase des explosiven technischen und wirtschaftlichen Aufschwungs zur Folge.“
Ein derartiges Beispiel für die Auswirkung eines – in diesem Fall: kalten – Krieges ist das Internet: Ursprünglich von den US-amerikanischen Streitkräften als dezentrales, und deswegen nur schwer verwundbares Kommunikationsnetz erdacht, hat es unser Leben in den letzten beiden Jahrzehnten evolutioniert, wie kaum eine andere Innovation der letzten 200 Jahre. Gerade das Beispiel Japan zeigt dessen ungeheure Wirkungsmacht bezogen auf die Grundelemente der postindustriellen Waren- und Dienstleistungsproduktion, nämlich Wissen, Kapital und Energie: Kapital und Wissen sind dank des Internets global frei verfügbar – eine brauchbare Standleitung vorausgesetzt. Einzig die Energie ist jener Produktionsfaktor, dessen Gewinnung und Verbrauch von physischen Räumen abhängig ist. Biogene Energiequellen würden diese räumliche Abhängigkeit deutlich reduzieren.
Ob diese Erkenntnis eine der Folgen der japanischen Dreifach-Katastrophe sein könnte? Erhard Oeser: „Die eigentliche Ursache sowohl des organisch-genetischen als auch der sozio-kulturellen Evolution ist der Drang zum Überleben.“ Ausschlaggebend wird also die Lernfähigkeit unseres Wirtschaftssystems sein. Auf dem Spiel steht viel, möglicherweise seine eigene Existenz. Jared Diamond hat seine Zweifel, wie er in „Kollaps“ ausführt: Gesellschaften, die mit bedrohlichen Veränderungen in ihren Überlebensbedingungen konfrontiert sind, intensivieren genau jene Strategien, mit denen sie zuvor erfolgreich waren – selbst wenn es diese Strategien waren, die den Gesellschaften genau jene Probleme beschert haben. Böden werden noch stärker gedüngt, das Öl wird aus noch größeren Tiefen geholt und der wachsende Energiebedarf unter noch größerem Risikoeinsatz gedeckt, zum Beispiel indem Atomkraftwerke in Erdbebenzonen an Tsunami-gefährdeten Küsten errichtet werden.
Wenn also jede Katastrophe das Potenzial zu einer evolutionären Veränderung in sich birgt, stehen uns fruchtbare Zeiten bevor. Erhard Oeser: „Nur eine Welt der Katastrophen ist eine lebendige Welt. Eine uniforme Welt des Gleichgewichts ist eine tote Welt. Nur dann, wenn dieses Gleichgewicht immer wieder unterbrochen wird, sind Entwicklung und Leben vorhanden.“ Zu ergänzen wäre: „… vorausgesetzt, es werden die entsprechenden Konsequenzen gezogen.“
Leseleiste
„Fossilien. Meilensteine der Evolution.“ von Jes Rust; Primus Verlag, Darmstadt 2011, 160 Seiten, Euro 30,80
„Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert“ von François Walter; übersetzt aus dem Französischen von Doris Butz-Striebel und Trésy Lejoly; Reclam, Stuttgart 2010, 386 Seiten, Euro 30,80
„Katastrophen. Triebkraft der Evolution“ von Erhard Oeser; Primus Verlag, Darmstadt 2011, 208 Seiten, Euro 25,60
„Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ von Jared Diamond; übersetzt aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel; S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2010 (2006), 704 Seiten, Euro 10,30
„Krakatau. Der Tag, an dem die Welt zerbrach“ von Simon Winchester; übersetzt aus dem Englischen von Harald Stadler; Albrecht Knaus Verlag, München 2003, 368 Seiten, Euro 24,60
„Krisen. Das Alarmdilemma“ von Gerhard Schulze; S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011, 252 Seiten, Euro 20,60